64. Kapitel

Von der Versuchung zur Verzweiflung und ihrem Gegenmittel

Der zweite Ansturm, mit dem der böse Geist uns völlig zu entmutigen sucht, ist der Schrecken, den er uns mit der Erinnerung an unsere Sünden einjagen will, um uns dadurch in den Abgrund der Verzweiflung zu stürzen.

In dieser Gefahr halte dich an die untrügliche Regel, daß die Gedanken an deine Sünden von der Gnade stammen und dich zum Heile führen, sofern sie in dir Demut, Schmerz über die Beleidigung Gottes und Vertrauen auf seine Güte erzeugen. Beunruhigen sie dich aber und verursachen in dir Mißtrauen und Kleinmut, daß sie dich unter dem Schein der Wahrheit und Berechtigung zu der Ansicht verleiten, du wärest verdammt und hättest keine Zeit mehr, dein Heil zu wirken, dann erkenne in ihnen eine Wirkung des hinterlistigen Betrügers. Verdemütige dich noch tiefer und vertraue umso fester auf Gott, denn dadurch wirst du den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen und dem Herrn Ehre erweisen.

Die Erinnerung soll dich allerdings wegen der Beleidigung Gottes jedesmal betrüben, aber im Vertrauen auf sein Leiden sollst du ihn dann auch um Verzeihung bitten.

Ja, ich sage dir noch mehr: Sollte es dir scheinen, als ob Gott dir selbst ankündigte, du gehörtest nicht zu seinen Auserwählten, so verliere deswegen durchaus nicht das Vertrauen auf ihn, sondern sprich in Demut zu ihm: „O mein Herr, du hast ja allen Grund, mich meiner Sünden wegen zu verwerfen. Doch hege ich um deiner Güte willen eine noch größere Zuversicht, daß du mir verzeihen wirst.

Darum erbitte ich von dir das Heil für dein armes Geschöpf, das wegen seiner Bosheit die Verdammnis verdient, aber durch den Preis deines Blutes erlöst wurde.

Zu deiner Ehre, mein Erlöser, verlange ich gerettet zu werden, und im Vertrauen auf deine unendliche Barmherzigkeit übergebe ich mich rückhaltlos in deine Hände. Verfahre mit mir nach deinem Wohlgefallen; du bist ja allein mein Richter. Selbst wenn du mich tötest, will ich in meiner zuversichtlichen Hoffnung auf dich nicht wanken!"