38. Kapitel

Alle Gelegenheiten zum Kampf um die Tugenden soll man liebgewinnen

Ich bin noch nicht zufrieden, daß du zur Erwerbung der Tugenden die sich darbietenden Gelegenheiten nicht meidest; ich will vielmehr, daß du sie als überaus wichtige Ereignisse hochschätzt, gerne suchst und mit Freuden umfängst, sobald sie sich zeigen. Und gerade die sollen dir die kostbarsten und liebsten sein, die deinem Empfinden am meisten widerstreben.

Das wird dir mit Gottes Hilfe nicht schwerfallen, wenn du deinem Herzen folgende Erwägungen tief einprägst:

Erstens: Die Gelegenheiten sind angemessene, ja notwendige Mittel zur Erwerbung der Tugenden. Wenn du daher zum Herrn um diese betest, bittest du folgerichtig auch um jene, denn in der Regel schenkt er die Geduld nicht ohne Trübsal und die Demut nicht ohne Verachtung.

Dasselbe muß man von allen anderen Tugenden behaupten, die man zweifellos nur auf dem Wege der Widerwärtigkeiten erlangt, welche uns umso mehr zu diesem Zweck verhelfen und die uns umso lieber und willkommener sein sollen, je mühseliger sie für uns sind. Die Tugendakte sind in solchen Fällen viel hochherziger und stärker und bahnen uns viel schneller und leichter den Weg zur Tugend.

Dabei dürfen wir aber auch die unbedeutendsten Gelegenheiten, wie beispielsweise einen unfreundlichen Blick oder ein liebloses Wort, nicht gering einschätzen und unbenutzt vorübergehen lassen, denn dafür sind dann die Tugendakte viel häufiger, wenn sie auch nicht so kräftig ausfallen, als jene, die wir bei größeren Schwierigkeiten setzen.

Die zweite Erwägung, die ich bereits vorhin streifte, ist: Alles, was uns begegnet, kommt von Gott, und zwar zu unserem Besten und Nutzen, den wir daraus ziehen sollen. Freilich gibt es (wie gesagt) darunter manches, wie zum Beispiel unsere Fehler und die der anderen, von denen man nicht behaupten kann, daß sie von Gott, der die Sünde nicht will, herrühren. Dennoch sind sie im gewissen Sinne von Gott, insofern er sie zuläßt und nicht verhindert, obwohl er sie verhindern könnte.

Alle Mühsal und Pein, die uns entweder als Folge unserer Sünden oder durch die Bosheit der Menschen zustoßen, sind jedoch von Gott und aus Gott, insoweit er bei ihnen mitwirkt. Das in seinen allerreinsten Augen so Häßliche und Sündhafte, das damit verbunden ist und nach seinem Willen nicht eintreten sollte, will Gott nur, damit wir es auf uns nehmen und geduldig erleiden, einmal wegen des Nutzens, den wir aus der Tugendübung ziehen, und dann aus anderen gerechten, aber uns verborgenen Gründen.

Da wir nun den Willen Gottes genau kennen, daß wir jede Drangsal, die uns von Seiten der Menschen oder auch um unserer eigenen Sünden willen widerfährt, mit Ergebung dulden, so ist das Gerede, das viele zur Entschuldigung ihrer Ungeduld führen, nichts anderes als ein nichtiger Vorwand, um die eigene Schuld zu verdecken und das Kreuz, das wir nach dem Willen Gottes unleugbar tragen sollen, abzulehnen.

Aber noch mehr behaupte ich: Unter gleichen Umständen ist es dem Herrn viel lieber, wenn wir das Unrecht vonseiten der Menschen, namentlich von jenen, denen wir früher Dienste und Wohltaten erwiesen haben, ertragen, als die Unbilden, welche uns von anderen widrigen Zufällen widerfahren. Dadurch wird unser natürlicher Hochmut mehr als sonst im Keime erstickt und Gott durch unser freiwilliges Dulden in höchstem Maße erfreut und verherrlicht, weil wir hier bei einem Vorfall mitwirken, aus dem seine unaussprechliche Güte und Allmacht in hellstem Glänze hervorleuchtet, daß wir nämlich aus dem verderblichen Gift der Bosheit und der Sünde die köstliche und süße Frucht der Tugend und Vollkommenheit gewinnen.

Merke dir also, christliche Seele: Sobald der Herr das lebhafte Verlangen nach Fortschritt und das ernste und pflichtschuldige Streben nach dem Besitz eines so kostbaren Gutes in uns wahrnimmt, bereitet er den Kelch ungemein heftiger Anfechtungen und der schlimmsten Versuchungen, die es gibt, den wir dann gelegentlich trinken müssen. Und im Gedenken an seine Liebe und an unser eigenes Wohl sollen wir ihn mit geschlossenen Augen ergreifen und unbesorgt und bereitwillig bis zum letzten Tropfen leeren; denn die Arznei ist von einer Hand, die niemals einen Fehlgriff machen kann, mit Zutaten gemischt, die der Seele umso heilsamer sind, je bitterer sie schmecken.