30. Kapitel

Von der Täuschung jener, die auf dem Wege der Vollkommenheit zu wandeln glauben

Hat der Widersacher beim ersten und zweiten Angriff und Täuschungsversuch eine Niederlage erlitten, dann versucht es der Böse mit einem dritten, daß er nämlich unsere Aufmerksamkeit von unseren eigentlichen Feinden, die uns wirklich bekämpfen und schädigen, ablenkt und uns mit Plänen und Wünschen nach einer höheren Vollkommenheit überrumpelt.

Infolgedessen tragen wir beständig neue Wunden davon, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Wir halten derartige Pläne schon für Wirklichkeit und schwelgen in stolzem Selbstgefühl.

Während wir nicht die geringste Mühsal oder einen Widerspruch ertragen mögen, vergeuden wir mitunter die Zeit mit langen Betrachtungen und Vorsätzen, wie wir große Leiden, ja selbst die des Reinigungsortes erdulden wollen.

Weil unsere Sinnlichkeit dagegen, wie bei einer fernliegenden Erscheinung, keinen Widerwillen empfindet, bilden wir Armselige uns ein, schon auf gleicher Stufe mit denen zu stehen, die in der Tat Großes mit Geduld ertragen haben.

Um diesem Irrtum aus dem Weg zu gehen, bekämpfe vorsätzlich nur solche Feinde, die dich aus der Nähe und Wirklichkeit bekriegen. Dann wirst du dich überzeugen, ob deine Vorsätze echt oder unecht, wirksam oder unwirksam sind, und du wirst auf dem gebahnten und königlichen Wege zur Tugend und Vollkommenheit voranschreiten.

Gegen solche Feinde aber, die dich gewöhnlich nicht belästigen, rate ich dir ab, einen Kampf zu unternehmen; es wäre denn, daß du einen baldigen Angriff von ihrer Seite aus zu erwarten hast. In diesem Falle tust du recht daran, im voraus Vorsätze zu fassen, um dann gerüstet und stark angetroffen zu werden.

Betrachte deine Vorsätze jedoch niemals als Tatsachen, selbst wenn du dich pflichtgemäß eine Zeitlang in der Tugend geübt hast. Bleibe demütig und in Sorge deiner Schwäche wegen! Vertrau auf Gott und nimm zu ihm in häufigem Gebet deine Zuflucht, damit er dich stärke und vor aller Gefahr behüte, namentlich vor jeder Vermessenheit und dem leisesten Selbstvertrauen.

Unter dieser Voraussetzung dürfen wir im voraus wohl Vorsätze fassen, um eine höhere Stufe der Vollkommenheit zu ersteigen, auch wenn wir einige kleinere Fehler nicht ablegen können, die der Herr zu unserer Verdemütigung und Selbsterkenntnis und zur Bewahrung irgendeines Gutes zuläßt.