Unfähigkeit, die Sünde zu erkennen

Gründonnerstag. Im Garten von Gethsemani wird Jesus durch schreckliche Qualen im Herzen zerrissen. Er ist in die Welt gesandt worden, um die Seelen von den Wirkungen der Erbsünde zu befreien, damit sie in die ewige Glückseligkeit hineingehen mögen. Die Erbsünde hat in den Seelen die Fähigkeit zum Sündigen aufgeschlossen. Die Seelen wurden anfällig für die unterschiedlichsten Untugenden, und die Sünden haben sich bis zur dichten Finsternis angehäuft, die Jesus in dieser Nacht in Sein Herz zieht. Der bittere Kelch aller Sünden von allen Jahrhunderten muss geleert werden.

Diese Nacht ist Zeuge des roten Fadens, der durch die ganze Menschengeschichte läuft: Hass, Verrat, Verleugnung, Verblendung, Geldsucht, Grausamkeit, Feigheit, der Meinung von Menschen große Bedeutung Beimessen, Selbstsucht, Unglaube, Vernichtung des Mitmenschen... Aber diese Nacht ist ebenfalls Zeuge des einzigen Heilmittels für diese Krankheit und der Verheißung der letztendlichen Gründung von Gottes Reich auf Erden. Dieses Heilmittel setzt sich zusammen aus: totaler Selbsthingabe, grenzenloser Liebe, erlösendem Leiden, der Einsetzung der heiligen Sakramente und der Vorbereitung des Kreuzes als ewiges und unzerstörbares Zeichen des Neuen Bundes zwischen Gott und der Menschheit. Satan vervielfältigt unaufhörlich die Legionen seiner ewigen Sklaven, weil die Seelen die Liebe nicht mehr leben UND weil sie die Sünde sehr oft nicht mehr erkennen.

Jesus schaute im Garten von Gethsemani schreckliche Visionen über den Stand der Seelen und die Folgen ihrer Sünden für die weitere Geschichte der Schöpfung. Er sah, was sehr viele sich weigern, zu sehen, oder wegen des schwarzen Rauches der Sünde nicht mehr imstande sind, zu sehen oder zu erkennen: die Sünde in der widerlichen Fülle ihrer wahren Art und ihrer Folgen. Die Seele, die nicht mehr sieht oder spürt, wann sie sündigt oder zu sündigen droht, ist eine Seele, die den Strom der Liebe nicht mehr wahrnimmt und die somit blind ist für das Göttliche Leben und für das wahre Glück, das von diesem Göttlichen Leben ausgeht.

Die Seele, die die Sünde nicht mehr sieht oder erkennt, kann auch kein Reuegefühl entwickeln. Unzählige Seelen meinen, dass sie nie sündigen, weil sie außer den schweren, auf der Hand liegenden Sünden wie Mord oder Überfall kaum noch irgendwelches Verhalten als Abweichung von Gottes Gesetz betrachten. Diese Seelen können somit keine Reue entwickeln in Bezug auf die manchmal unübersehbare Menge von Untugenden und Sünden, die sie sich zu Schulden kommen lassen, und sie sind auch nicht mehr dazu imstande, über ihre eigenen Taten, Nachlässigkeiten und Worte einzukehren.

Einkehr und Reumütigkeit sind Fähigkeiten, die blühen, solange das Gewissen gesund bleibt. Das Gewissen wird aber schwächer (oder schläfriger) in dem Grad, wie die Seele den Versuchungen nachgibt. Nach einer ersten Versuchung fühlt sich die Seele im Allgemeinen schlecht. Je nachdem sie aber ähnlichen Versuchungen nachgibt, kann dieses Gefühl geschwächt werden, und schlimmstenfalls (was allerdings häufig vorkommt) spürt sie nach einiger Zeit nichts mehr, wenn sie sündigt. Dies ist vor allem der Fall, wenn sie nicht die Gewohnheit hat, sich regelmäßig das Sakrament der Beichte zunutze zu machen, in dem sie nicht nur die Gnade der Vergebung, sondern auch diese des Verständnisses in Bezug auf die Sünde bekommen kann.

Als Jesus am Abend des Gründonnerstags sagte: “Tut dies zu Meinem Gedächtnis!”, so meinte Er dies in einem weiteren Sinne, als wir diese Worte gewöhnlich verstehen (nämlich als Einladung an die Kirche, die Eucharistiefeier aufrecht zu erhalten: Er legte mit diesen Worten in Wirklichkeit den Seelen ans Herz, Ihm zu folgen, sowohl indem sie ihr Leben als Kreuzweg zur Erlösung vieler Seelen leben sollten - das heißt, indem sie alle Prüfungen mit Liebe durchstehen und diese aufopfern -, als auch weiterhin Seinem Vorbild der stillen Betrachtung der Sünde im Garten von Gethsemani zu folgen, indem sie ihr Gewissen in der Absicht schärfen, die Versuchung immer erkennen zu können, bevor diese ihren Weg zur Sünde vollenden kann.