Die Mystikerin aus Umbrien

Kürzlich wurde der 700. Todestag der heiligen Klara vom Kreuz mit einem Kongress gefeiert

Ein Besuch in ihrem Kloster in Montefalco

DT vom 02.10.2008 Von Claudia Kock

Mitten in Umbrien liegt auf einem Berg der kleine Ort Montefalco. Er ist umgeben von Olivenhainen und Weinbergen; verwinkelte Gassen und uralte Treppen prägen das Stadtbild. Die Hauser aus dem typischen grauer Gestein der Gegend sind liebevoll mit Blumenkübeln geschmückt. Viele kleine Lokale bieten umbrische Küche und den berühmten Rotwein „Rosso di Montefalco" an. Der Ort wirkt freundlich und einladend. Montefalco liegl abseits der großen Touristenströme, wird aber von vielen Pilgern auf dem Weg nach Assisi, Cascia oder dem ferner gelegenen Rom besucht.

Sucht man nach dem Herzen der Stadt, so muss man seine mittelalterlichen Mauern durch eines der Tore verlassen. Hier, wo der Blick weit über das Tal von Umbrien hinweggeht, steht die Kirche „Santa Chiara della Croce", in der seit 700 Jahren eine Frau ruht, die erst 1881 offiziell heilig gesprochen wurde, die aber in Montefalco und Umgebung schon immer hoch verehrt und geliebt wurde. Als die Urne mit ihrem unversehrten Körper am 17. August anlässlich ihres 700. Todestages in einer feierlichen Prozession durch den Ort getragen wurde, folgten ihr Tausende von Menschen. Wenn man die Kirche betritt, um die heilige Klara zu besuchen, findet man darin oft die Gemeinschaft der Augustinerinnen, der heutigen Mitschwestern Klaras, beim Chorgebet.

 

Chor seit kurzem vor dem Altar

Der Chor befindet sich seit kurzem vor dem Hauptaltar. Vorher beteten die Schwestern das Stundengebet in einer verschlossenen Seitenkapelle; nur ihre Stimmen waren im Kirchenschiff zu hören. Mit einer neuen Priorin kamen Veränderungen: Der Chor wurde vor den Hauptaltar verlegt; die Schwestern sind jetzt beim Stundengebet sichtbar und hörbar. Die vormalige langjährige Priorin des Klosters, die selbst bereits eine solche Veränderung ins Auge gefasst hatte, zeigt sich begeistert. Die Menschen, die die Kirche besuchten, hätten durch die Anwesenheit der betenden Schwestern viel größeren Respekt vor dem heiligen Ort. Während die Kirche vorher außer für die sonntägliche Eucharistiefeier ungenutzt war und von vielen Besuchern fast wie ein Museum betrachtet wurde, so ist sie jetzt mit liturgischem Leben erfüllt. Die Besucher nehmen Rücksicht auf die betende Gemeinschaft, sprechen mit leiser Stimme oder setzen sich still in die Bänke, um dem Gebet zuzuhören oder daran teilzunehmen. Und die hl. Klara befindet sich direkt daneben in ihrer gläsernen Urne. Bis heute ist sie in das Gebet der Schwestern mit eingebunden.

Die Augustinerinnen von Montefalco gehört zu einer Föderation von Klöstern kontemplativer Augustinerinnen. Die Klöster liegen größtenteils in Mittel- und Norditalien, vereinzelt aber auch in Spanien. auf Malta, im Tessin, auf den Philippinen und in Kenia. Das erste Kloster der Augustinerinnen entstand 1264 in Oberndorf in Württemberg; heute sind die kontemplativen Augustinerinnen im deutschen Sprachraum nicht mehr vertreten. Eine Neugründung entsteht zurzeit in Süditalien, in Kalabrien. Sie geht vom Kloster der Augustinerinnen in Lecceto bei Siena aus, das von allen die größte Zahl neuer Berufungen hat. Der Habit der Augustinerinnen, der ständig getragen wird, ist schwarz mit einem langen schwarzen Schleier, der um das Gesicht herum weiß abgesetzt ist, und einem ebenso schwarzen, langen Ledergürtel, dem typischen Attribut des Augustinerhabits. Dem heiligen Augustinus folgend steht das Gemeinschaftsleben bei ihnen im Mittelpunkt,  das  Miteinander als Schwestern in Christus, aber auch die Verbundenheit mit der Welt und ihren Nöten. Sie wird vor allem im Gebet gelebt, aber auch durch die Offenheit im Umgang mit allen Menschen, die sich der Gemeinschaft nähern, wobei die strenge Klausur stets gewahrt bleibt. Für die Augustinerinnen ist diese auch sehr wichtig als Ort, in dem sie sich als Gemeinschaft entwickeln und in der Liebe wachsen können.

Diese Hervorhebung des Gemeinschaftslebens ist eine Frucht des Zweiten Vatikanischen Konzils. Schon vor dem Konzil hatten sich die Klöster der Augustinerinnen zu einer Föderation zusammenschlossen, um einander bei Bedarf Hilfe leisten zu können. Jedes einzelne dieser Klöster war autonom irgendwann im Laufe der Geschichte entstanden, wenn die jeweilige Gemeinschaft die Augustinusregel annahm und in den Augustinerorden eingegliedert wurde. Es gab jedoch keine gemeinsame Spiritualität. Diese entstand erst als das Zweite Vatikanische Konzil die Orden aufforderte, zu ihren Wurzeln zurückzugehen und das jeweils Ordensspezifische neu zu entdecken. Im Falle der Augustinerinnen war dies sehr schwierig, denn es gab keinen Ordensgründer im eigentlichen Sinne. Vom heiligen Augustinus kam zwar die Ordensregel, aber auch andere Orden, wie beispielsweise die Dominikaner, haben diese als Grundlage.

Die Augustinerinnen betrachteten den heiligen Augustinus jedoch zumindest als ihren geistigen Vater und begannen, die Schriften des Heiligen zu studieren. So entstanden 1971 die Konstitutionen der Augustinerinnen, die das Gemeinschaftsleben in den Vordergrund stellen und gleichzeitig die Notwendigkeit der Beibehaltung der päpstlichen Klausur und des kontemplativen Lebens hervorheben. In vielen Klöstern wurde das Leben nach und nach erneuert, um es den Konstitutionen besser anzupassen. Heute, über 30 Jahre später, lässt sich feststellen, dass die Klöster, die sich stärker geöffnet haben, festeren Bestand und mehr neue Berufungen haben als diejenigen, die die Neuerungen nicht angenommen haben. Im Ganzen wurde die Reform jedoch sehr respektvoll und ohne Übertreibungen oder Exzesse durchgeführt. Man blieb dem monastischen Leben und der Klausur treu, wahrte den Habit, der nur geringfügig geändert wurde, aber seine würdevolle Form behielt, und machte die Schönheit der Liturgie, vor allem den Gesang, zu einer Priorität. Bei den kontemplativen Augustinerinnen hat das Zweite Vatikanische Konzil gute Früchte getragen und dem Orden erst die Physiognomie verliehen, die er heute besitzt.

 

Außergewöhnliche Visionen

Trotz dieser Neuerungen hat jedes Kloster seine besonderen Traditionen bewahrt, vor allem im Hinblick auf die Heiligen, die mit dem jeweiligen Ort verbunden sind. In Rom sind dies beispielsweise die Märtyrer der frühen Christenverfolgungen, in Cascia die heilige Rita - und in Montefalco die heilige Klara vom Kreuz.

Klara (Chiara) wurde 1268 in Montefalco geboren. Sie hatte eine ältere Schwester namens Johanna, die zusammen mit einer Weggefährtin das eremitische Leben in einem Reclusorium aufnahm, das ihr Vater auf Wunsch seiner Tochter bauen ließ. Der kleinen Gemeinschaft schlossen sich nach und nach weitere junge Frauen an, in dem Wunsch, Gott zu dienen in einem Leben der Meditation und der Buße. Da auf päpstliche Verfügung alle Ordensgemeinschaften eine der schon bestehenden Regeln annehmen mussten, übernahm die kleine Gemeinschaft um Johanna die Regel des heiligen Augustinus. Klara war ein lebhaftes und intelligentes Kind. Sie fühlte sich stets zum Religiösen hingezogen und besuchte oft ihre ältere Schwester in der Gemeinschaft. Bereits im Alter von sechs Jahren hatte sie den Wunsch, sich der Gemeinschaft anzuschließen und ebenfalls ein Leben der Buße und der Meditation zu führen. Dieser Wunsch wurde ihr gewährt, sicher auch im Hinblick auf die Tatsache, dass sie dort bei ihrer leiblichen Schwester lebte, die Eltern nicht fern waren und sie stets zu diesen zurückkehren könnte, wenn sie dies gewollt hätte. Klara verspürte diesen Wunsch jedoch nicht, sondern blieb bis zu ihrem Tod mit 40 Jahren in der Klausur und verließ diese nur, wenn klösterliche Angelegenheiten dies erforderte.

Klara besaß außergewöhnliche mystische Begabungen. Sie hatte Ekstasen und Visionen und spürte den göttlichen Trost, wenn sie über das Leiden und den Tod des Herrn meditierte. Im Alter von 20 Jahren sollte sie jedoch einen Zustand erleben, den viele Mystiker durchmachen: die „dunkle Nacht" der Abwesenheit Gottes und der Glaubenszweifel. Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila machten diese Erfahrung ebenso wie in unseren Tagen Mutter Teresa von Kalkutta und viele andere mystisch begabte Menschen. Klaras „dunkle Nacht" begann, als sie mit einer Mitschwester über den göttlichen Trost sprach, der ihr bei der Betrachtung des Leidens Christi geschenkt wurde. Sie war der Meinung, dass auch die anderen ähnliche Erfahrungen machten. Als die Schwester ihr mitteilte, dass dies nicht der Fall sei, war Klara stolz darauf, vom Herrn bevorzugt zu sein.

Der Hochmut kam in ihr Herz, und von dem Augenblick an wurden ihr sämtliche mystischen Erlebnisse genommen. Innere Leere und Glaubenszweifel überkamen sie - ein Zustand, der elf Jahre lang dauern sollte. Sie verharrte jedoch im religiösen Leben, ließ sich nach außen hin nichts anmerken und war stets darauf bedacht, in der Liebe zu den Schwestern und zu allen Menschen zu wachsen. Nach dem Tod Johannas wurde sie zur Priorin des Klosters gewählt. Nach sieben Jahren in diesem Amt hatte ihre „dunkle Nacht" ein Ende. In einer Vision kam Christus in der Gestalt eines Pilgers auf sie zu, mit dem Kreuz auf der Schulter. Mit den Worten des Petrus aus der Johannespassion sagte Klara: „Herr, wohin gehst du?" Christus antwortete: „Ich habe die ganze Welt durchzogen, auf der Suche nach einem starken Ort, an dem ich mein Kreuz fest aufpflanzen kann, habe ihn aber nicht gefunden". Als Klara nach dem Kreuz griff, fügt er hinzu: „Ja, Klara, hier habe ich den Ort für mein Kreuz gefunden". Klara verspürte einen starken Schmerz im Herzen. Als die Vision vorüber war, blieb der Schmerz erhalten und verließ sie ihr ganzes Leben nie mehr ganz. Immer wieder wird Klara zu ihren Mitschwestern sagen: „Ich trage das Kreuz Jesu Christi in meinem Herzen". Diese Worte enthalten jedoch keinen Hochmut mehr. Klara ist geläutert durch die langen Jahre der „dunklen Nacht"   der   Gottesferne,   und   das   Kreuz,   der Schmerz in ihrem Herzen ist real und spürbar. Es ist kein süßliches Kreuz, sondern ein Schmerz, eine Realität - ebenso wie aller Schmerz in der Welt Realität ist.

Vierzehn Jahre lang - bis zu ihrem Tod im Jahre 1308 - lebte Klara mit dem „Kreuz Jesu Christi" in ihrem Herzen, im ständigen Gebet und in unermüdlicher Nächstenliebe zu ihren Schwestern und zur Welt. Sie gab einfachen Menschen Rat und führte Korrespondenzen und Gespräche mit bedeutenden Theologen und Kirchenmännern wie den Kardinälen Pietro und Giacomo Colonna und Ubertino da Casale. Sie stiftete Frieden zwischen verfeindeten Orten und entlarvte die „Brüder vom freien Geist", die zeitweise versuchten, Klara und ihre Mitschwestern in ihren Bann zu ziehen, als Häretiker. Sie wurde zur großen „Friedensstifterin Umbriens", die von vielen Menschen verehrt wurde. Am 17. August 1308 starb Klara von Montefalco im Alter von 40 Jahren im Ruf der Heiligkeit. Ihr Körper wurde von ihren Mitschwestern einbalsamiert und liegt bis heute unversehrt in der gläsernen Urne in ihrer Kirche in Montefalco - eine kleine, zarte Frau mit energischen und gleichzeitig demütigen Gesichtszügen.

Im Rahmen der Feierlichkeiten zu ihrem 700. Todestag fand vom 25. bis zum 27. September in Montefalco und Spoleto ein internationaler Kongress statt, der sich mit der Gestalt der hl. Klara, ihrer Zeit und ihrem Umfeld befasste. Er wurde von der italienischen Augustinerprovinz und vom Augustinerinnenkloster „Santa Chiara della Croce" organisiert, in Zusammenarbeit mit der Diözese Spoleto-Norcia, dem Patristischen Institut „Augustinianum" in Rom sowie dem „Centro per Alto Medioevo" (CISAM) in Spoleto. Der Kongress wurde durch den Bischof von Spoleto-Norcia und den Bürgermeister von Montefalco in der Kirche vor der Urne der Heiligen eröffnet. Die beiden Einführungsvorträge hielten Rev. Dario Vitali, Professor für Ekklesiologie an der Päpstlichen Universität „Gregoriana" sowie Prof. Silvestro Nessi aus Montefalco, einer der größten Kenner des Lebens der heiligen Klara. Am zweiten Kongresstag, in Spoleto, sprachen Mediävisten der Päpstlichen Lateranuniversität sowie verschiedener italienischer Universitäten über die Zeit und das Umfeld der hl. Klara.

Zwei Höhepunkte waren die Vorträge von Professore Enrico Menestö von der Universität Perugia, einem der bedeutendsten Mediävisten in Italien, über die Biographien der heiligen Klara, sowie von Professore Francesco Santi von der Universität Lecce, der über die „theologia cordis" der heiligen Klara referierte. Der dritte und letzte Kongresstag fand in der Kirche des heiligen Augustinus in Montefalco statt. Er wurde eröffnet durch den Vortrag von Professor Willigis Eckermann OSA vom Augustinus-Institut in Würzburg über die umbrische Spiritualität des 13. und 14. Jh., gefolgt von Carolin Oser-Grote, der Leiterin de: Bibliothek desselben Instituts, die über Balsamierungstechniken im Mittelalter sprach. Zwei Beitrags zur Ikonographie Klaras und eine sehr schöne Präsentation spanischer und lateinamerikanische. Darstellungen der Heiligen durch Antonio Iturbe OSA, den Prior des berühmten Augustinerkonvent Escorial in Madrid, schlossen den Kongress ab.

Akademische Kongresse und Studien sind unsere moderne Form der Auseinandersetzung mit Phänomenen, die unserem Verstand nicht unmittelbar zugänglich sind. Die heilige Klara ist ein solches Phänomen. Ihre Visionen und Ekstasen, das Kreu2 Christi in ihrem Herzen und ihre klares Verständnis schwieriger menschlicher und theologischer Probleme ohne eine entsprechende Bildung stellen uns vor Fragen. Wir versuchen auf unsere Weise, Erklärungen zu finden, die Gestalt Klaras unserer modernen Denkweise anzunähern. Wir fragen uns: Wie sind die Visionen aus medizinischer oder psychologischer Sicht zu erklären? Wie sah der sozialpolitische Hintergrund dieser Ereignisse aus? Was bedeutet es theologisch, „das Kreuz im Herzen zu tragen"?

 

Fleischstück in Kreuzform

Klaras Mitschwestern im 14. Jahrhundert versuchten auf andere Weise, das „Phänomen Klara" zu erklären. Um den Körper der Heiligen zu einzubalsamieren, mussten sie die inneren Organe entfernen - und schnitten kurzerhand ihr Herz in der Mitte auf, um das Kreuz Christi zu finden, von dem Klara stets gesprochen hatte. Uns mag diese Idee absurd erscheinen, aber die Schwestern wurden fündig. Sie fanden nicht nur mitten im Herzen ein Fleischstück in der Form eines Kreuzes, sondern auch weitere Stücke in der Form anderer Passionswerkzeuge. Auch die Gallenblase öffneten sie und fanden hier drei runde Steine von genau gleicher Größe - Klara trug also nicht nur das Kreuz, sondern auch ein Zeichen der Trinität in ihrem Innern. Das geöffnete Herz, das Kreuz und die drei Steine werden bis heute in einem Reliquiar bei der Urne der Heiligen aufbewahrt.

Eine der heutigen Schwestern war vor ihrem Klostereintritt als Kardiologin tätig. Sie sagt, dass die heilige Klara offensichtlich an einer Herzkrankheit litt und sehr wahrscheinlich auch daran gestorben ist. Das „Kreuz" und die „Passionswerkzeuge" sind wildes Fleisch, das sich im Herzen bilden und dieses ausweiten kann, was schmerzhaft ist und schließlich zum Tod führt. Wichtiger als all diese Erklärungen ist aber, dass Klara das Kreuz Christi in ihrem Herzen trug. Sie wird so zum Vorbild für alle ihre Mitschwestern und für jeden Christen, der Sorge trägt für die Welt - eine Welt, die von Kreuz gezeichnet ist.