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Monsignore Dr. Otto Müller

Verbandspräses der Katholischen Arbeitervereine Westdeutschlands

Priester des Erzbistums Köln

* 9. Dezember 1870 [Reichshof-]Eckenhagen

+ 12. Oktober 1944 Strafanstalt Berlin-Tegel

 

Otto Müller ist am 9.12.1870 in [Reichshof-]Eckenhagen, im Bergischen Land, geboren worden. Die Beförderung seines Vaters vom Lehrer zum Hauptlehrer ist mit einer Versetzung nach [Mülheim-]Heißen verbunden gewesen. In Mülheim/Ruhr hat M. 1890 das Abitur abgelegt und in Bonn das Studium der Philosophie und Theologie begonnen. Am 15.8.1894 wurde er, 23jährig, durch den Kölner Kardinal Krementz zum Priester geweiht und zum Kaplan in der ländlichen Gemeinde Morsbach, im Oberbergischen, bestellt. Bereits im Oktober 1895 ist auf Bitten von M. die Versetzung an die Hauptpfarre in Mönchengladbach erfolgt, da er etwas suchte, wo es „mehr zu tun" gibt. Hier ist er in eine Pfarrei mit 40 000 Gläubigen und fünf Geistlichen gekommen. 1896 war M. Präses des dortigen kath. Arbeitervereins mit 1 200 Mitgliedern. 1899 gründete er mit Dr. August Pieper die „Westdeutsche Arbeiterzeitung" (WAZ). Die kath. Arbeiterschaft Westdeutschlands hatte jetzt ein eigenes Sprachrohr für ihre Anliegen.

Ein Weiterstudium in Freiburg von 1902 bis 1904 in Nationalökonomie hat er mit dem Doktorat abgeschlossen. Es folgten Jahre des organisatorischen und strukturellen Auf- und Ausbaues der katholischen Arbeitervereine: 1904 wurde der Westdeutsche Verband der kath. Arbeiter-, Arbeiterinnen- und Knappenvereine (KAB) gegründet. Dr. August Pieper wird Verbandspräses, M. sein Stellvertreter. Gleichzeitig wird M. 1904 Direktor des Volksvereins und Verlagsleiter der Zentrale. 1906 übernahm M. von Dr. Pieper das Amt des Diözesanpräses der kath. Arbeitervereine der Erzdiözese Köln. Am 22.9.1918 wurde M. Nachfolger von Dr. August Pieper im Amt des Verbandspräses der kath. Arbeitervereine Westdeutschlands - mit der Zustimmung des Kardinals Felix von Hartmann.

M. war inzwischen zu einer anerkannten Persönlichkeit herangewachsen, nicht überall geliebt, aber doch geachtet, und in der kath. Arbeiterbewegung zu einer Autorität geworden, zu einer Priesterpersönlichkeit, der Vertrauen, Achtung, Verehrung, Liebe und Anhänglichkeit entgegengebracht wurden. Er hat schon längst die kath. Arbeiterbewegung, ihre ideelle, organisatorische Weiterentwicklung als sein Lebenswerk angesehen, das es zu festigen galt. Meilensteine auf dem Weg dazu waren Kongresse oder in der Sprache von heute Verbandstage. 1921 faßte die KAB erstmalig ihre Grundlagen und Zielsetzungen offiziell im sogenannten Würzburger Programm zusammen, das in wesentlichen Teilen aus der Feder von M. stammte. Um 1920/21 ist die Zentrale des Westdeutschen Verbandes der KAB nach Köln in das neu errichtete Kettelerhaus verlegt worden. Diesen Schritt hat M. als vorläufige Abrundung seines Lebenswerkes ansehen können. Die Verbandszentrale in Köln ist Ende der 20er Jahre personell wie folgt ausgestattet gewesen: Verbandsvorsitzender, der Elsässer Joseph Joos, Verbandssekretär Bernhard Letterhaus, Verbandspräses M. und Nikolaus Groß, Redakteur der „Westdeutschen Arbeiterzeitung" (WAZ).

Diese Persönlichkeiten sind zu Mitstreitern für die gemeinsame Sache der kath. Arbeiter und auch zu Weggefährten bis in den Tod geworden. Da M. auch mit Freunden aus kath. Sozialbewegungen in den Nachbarländern regen Gedankenaustausch pflegte, suchte er seit Anfang der 20er Jahre eine Katholische Arbeiter-Internationale (KAI) aufzubauen. 1928 hat der bedeutende Kongreß der KAI in Köln stattgefunden.

Schon vor der Machtübernahme durch Hitler erhob M. in der WAZ seine mahnende und warnende Stimme, weil er gelernt hatte, die Zeichen der Zeit zu deuten. Aber er wurde nicht gehört. Nach dem 30.1.1933 trat er noch einmal in der Öffentlichkeit auf: In einer großen Wahlveranstaltung des Zentrums in der Kölner Messehalle hat er seine letzte große öffentliche Rede gegen die neuen Machthaber gehalten. Er legte sein Mandat als Ratsmitglied der Stadt Köln nieder, weil er sich weigerte, sich „zu Ehren der Toten" der ns „Bewegung" zu erheben. Das Verbot der sogenannten Doppelmitgliedschaft 1934 bedeutete de facto die Auflösung der KAB. M. versuchte demonstrativ Öffentlichkeit durch Wallfahrten herzustellen. Das war in den Jahren 1934/1935 noch der Versuch, die kath. Arbeiter zu einem eindeutigen Bekenntnis aufzurufen. Mitte der 30er Jahre hat M. Kontakt zu oppositionellen Kreisen des Militärs und zu Einzelpersonen gefunden, die den Gedanken des Widerstandes gegen Hitler verfolgten: zum Beispiel zu Jakob Kaiser in Berlin, ehemaliger Landessekretär der aufgelösten christlichen Gewerkschaften; bei ihm haben sich verantwortungsbewußte Männer getroffen, die Gedanken über den Widerstand gegen Hitler und den NS-Staat anstellten.

1938 hat M. in einem Weihnachtsbrief geschrieben: „Wo Gott nicht ist, da kann auch nicht Ehrfurcht sein vor allem, was Menschenantlitz trägt; nicht Mitleid mit Armen, Kranken und Schwachen, nicht Gerechtigkeit gegen jedermann, und nicht jene Liebe, die du uns befohlen und vorgelebt hast, dem Nächsten zu geben, was wir selber an Glück und Wohlergehen uns wünschen. So laß, göttliches Kind, alle, die sich unsere Mitglieder nennen, in der Gemeinschaft, in der sie mit mir zusammenstehen, frei bleiben vom Gift Gott entfremdeten Denkens". M. hat hier schon mutig mit Namen genannt, was sich als die großen Verbrechen der Nationalsozialisten abzeichnet: Unglaube, Vernichtung der Kranken und Schwachen, Verfolgung der Juden.

Das Kettelerhaus in Köln ist zunehmend zu einer Stätte des Widerstandes geworden. Der engere Kreis hat aus den Mitarbeitern der Zentrale um M. bestanden. Bereits 1940 ist Joseph Joos verhaftet worden und hat bis zur Befreiung im KZ Dachau überlebt. M. hat Kontakt mit dem Kreis um den Grafen Moltke gehalten, zu dem auch der Jesuitenpater Alfred Delp gehörte. Carl Goerdeler, Oberbürgermeister von Leipzig, übernachtete anläßlich eines Treffens in M.s Privatwohnung in Köln. Ostern 1944 hat M. Köln verlassen und ist zu den Franziskanerinnen nach Olpe gezogen. Hier konnte er noch am 15.8. sein Goldenes Priesterjubiläum feiern. Dem aber ging voraus das gescheiterte Attentat vom 20.7.1944. Danach erkannte die Gestapo schnell, welche Bedeutung das Kettelerhaus in Köln für den Widerstand hatte. Der Blutzoll aus der Verbandszentrale der KAB war groß. Bernhard Letterhaus und Nikolaus Groß wurden verhaftet und später hingerichtet. M. ist nach dem 18.9.1944 - das genaue Datum ist nicht bekannt - festgenommen worden. Der 73jährige M. ist sehr schwer magenkrank gewesen und fast erblindet. Er ist nach seiner Verhaftung in die Strafanstalt Berlin-Tegel gebracht worden. Am 18.9.1944 fand sich unter den Akten zur Vernehmung von Nikolaus Groß in den „Kaltenbrunner-Berichten" die Notiz: „Festnahme Müllers, der als Vertreter des politischen Katholizismus bekannt ist, wurde angeordnet". M. blieb eine lange Haftzeit und der Prozeß vor dem Volksgerichtshof erspart. Er ist am 12.10.1944 im „Staatskrankenhaus der Polizei" in Berlin gestorben. Sein Grab ist unbekannt. M. ist für seine Überzeugung in den Tod gegangen.

Das Leben von M. war geprägt von der Sorge für die Arbeiterschaft, insbesondere für die kath. Arbeiter. Ihnen galt seine ganze Liebe, seine unermüdliche Schaffenskraft beim Aufbau und bei der Verwirklichung der Standesorganisation der kath. Arbeiter und ihrer Beheimatung in der Kirche. Er hinterließ bis zu seinem Tod in über 40jähriger Verbandsarbeit ein beachtliches organisatorisches Werk mit der Verbandszentrale der Westdeutschen KAB in Köln.

Aber in erster Linie war M. Priester und Präses, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ,Christus in den Menschen heranzubilden', wie er es einmal als junger Kaplan formuliert hatte. Seine Gemeinde waren die Arbeitervereine. Was M. den einfachen Menschen gegenüber auszeichnete, wird aus einem Brief anläßlich des 40jährigen Priesterjubiläums am 15.8.1934 deutlich: „Sie hatten den Vorzug, der Sie vor allen anderen auszeichnet: Sie sind der einfache und schlichte Mensch geblieben, der Sie waren. So schlicht und einfach, wie Sie vor Jahrzehnten inmitten der armseligen Textilarbeiter Ihr priesterliches soziales Wirken begannen, so einfach und schlicht stehen Sie auch heute noch vor uns. Der Mann, der vor 40 Jahren sich Ihnen anvertraute, wagt sich auch heute noch in Ihr Haus und reicht Ihnen genau so selbstverständlich die Hand wie ehedem. Sie haben sich nicht entfernt von Ihren Getreuen, weder nach oben noch nach unten. Sie sind geblieben was Sie waren - ernst und gütig und immer hilfsbereit." Für die Arbeiterschaft forderte M. nicht nur Caritas, sondern auch soziale und politische Gerechtigkeit. Nach seiner Überzeugung setzte eine Zuständereform eine Gesinnungsreform voraus. Seine großen Leitbilder waren die beiden Sozialenzykliken Rerum novarum (1891) und Quadragesimo anno (1931), denen er sich verpflichtet wußte. Sein mutiges Auftreten in den Jahren der Nazi-Diktatur machte ihn zu einem Bekenner und Märtyrer, der seinen Platz ebenbürtig neben anderen Bekennern und Märtyrern der KAB einnimmt.

WW: Vgl. Übersicht in: Kettelerhaus (Hrsg.), Arbeit und Opfer (Köln 21975) 151-154; Übersicht der weiteren Veröffentlichungen bei: G. Schoelen (Bearb.), Der Volksverein für das katholische Deutschland, 1890 -1933. Eine Bibliographie (Mönchengladbach 1974) 57ff.

QQ: AEK; Archiv des Ketteler-Hauses, Köln; Privatarchiv Rosemarie-Regina Schlingschroeder-Letterhaus, Overath.

Lit.: J. Joos, Am Räderwerk der Zeit. Erinnerungen aus der katholischen und sozialen Bewegung und Politik (Augsburg o. J. [1950]); Ritter, Goerdeler, 115, 286, 525; A. Heinemann, O. M., priesterlicher Dienst am Nächsten, in: Arbeit und Opfer. Hrsg. vom Kettelerhaus der KAB Köln (Köln 21975) 91-154; J. Aretz, O. M., in: ZGLB 3 (1979) 191-203; ders., Arbeiterbewegung; Th. Rutt, Dr.med Fritz Wester. Verfolgter des Nationalsozialismus (Köln 1983); Bracher, Gewissen, 340-342; D. Wächter, Katholische Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus im Erzbistum Paderborn = Paderborner Beiträge zur Geschichte. Nr. 3 (Paderborn 1989); Haffert, Arbeitervereine; G. Klein, Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890-1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang = VKZG. Reihe B 75 (Paderborn u.a. 1996); Torsy-Kracht, 280; A. M. Eckert, „Mit Stolz blicken die Deutschen auf die Männer des 20. Juli...". Ein unbekannter Artikel Emil Dovifats über das Attentat auf Hitler, in: B. Sösemann (Hrsg.), Emil Dovifat. Studien und Dokumente zu Leben und Werk = Beiträge zur Kommunikationsgeschichte. Bd. 8 (Berlin 1998) 161-186.

Germar Pawelletz