ZWÖLFTE ROSE

Das Vaterunser, das Gebet des Herrn

Das Vaterunser oder Gebet des Herrn empfängt seinen ersten Vorzug von seinem Urheber; denn nicht ein Engel oder ein Mensch ist sein Urheber, sondern der König der Engel und Menschen, Jesus Christus selbst.

Es war notwendig, sagt der heilige Cyprian, daß derjenige, der gekommen war, uns als Erlöser das Leben der Gnade zu geben, uns als himmlischer Lehrmeister die Art und Weise zu beten lehre. Die Weisheit dieses himmlischen Lehrers erhellt aus der Ordnung, der Lieblichkeit, der Kraft und Klarheit dieses göttlichen Gebetes; es ist kurz, aber reich an Unterweisung, leicht faßbar für die Einfachen und voll der Geheimnisse für die Gelehrten.

Das Vaterunser enthält alle Aufgaben, die wir Gott gegenüber zu erfüllen haben, die Akte aller Tugenden und die Bitten für alle unsere geistigen und leiblichen Bedürfnisse. Es enthält, sagt Tertullian, den Abriß des Evangeliums. Es übersteigt, sagt Thomas von Kempen, alle Wünsche der Heiligen; es enthält im Auszug alle lieblichen Lehren der Psalmen und Gesänge; es bittet um alles, was uns nötig ist; es lobt Gott auf vorzügliche Weise; es erhebt die Seele von der Erde zum Himmel und vereinigt sie innigst mit Gott.

Der heilige Chrysostomus sagt, wer nicht so bete, wie der göttliche Meister gebetet und zu beten gelehrt, sei nicht sein Schüler, und Gott der Vater höre die Gebete nicht gern, die der menschliche Geist ersonnen, wohl aber jene, die sein Sohn uns gelehrt.

Wir müssen das Gebet des Herrn mit der Gewißheit verrichten, daß der ewige Vater es erhören wird, weil es das Gebet seines Sohnes ist, den er immer erhört, und weil wir dessen Glieder sind; denn was könnte ein so gütiger Vater auf ein Bittgesuch hin verweigern, das so gut abgefaßt ist und sich auf die Verdienste und die Empfehlung eines so würdigen Sohnes stützt?

Der heilige Augustinus versichert, ein gut verrichtetes Vaterunser tilge die läßlichen Sünden. Der Gerechte fällt siebenmal des Tages (Sprw. 24,16). Das Gebet des Herrn enthält sieben Bitten, durch die er seine Fälle wiedergutmachen und sich gegen seine Feinde stärken kann. Es ist kurz und leicht, damit wir gebrechliche und vielerlei Elend unterworfene Menschen umso raschere Hilfe finden, je öfter und andächtiger wir es beten.

Täuschet euch also nicht, ihr frommen Seelen, die ihr das Gebet vernachlässigt, welches der eingeborne Sohn Gottes verfaßt und allen seinen Gläubigen vorgeschrieben hat, die ihr nur jene Gebete schätzet, die von Menschen verfaßt sind, als ob der Mensch, selbst der erleuchtetste, besser als Jesus Christus wüßte, wie wir beten sollen.

Ihr sucht in den Büchern der Menschen die Art, Gott zu loben und zu bitten, als ob ihr euch schämen würdet, euch derjenigen zu bedienen, die sein Sohn uns vorgeschrieben.

Ihr bildet euch ein, die Gebete in den Büchern seien für die Gelehrten und die Reichen, und der Rosenkranz sei nur für die Weiber, die Kinder und das Volk, als ob die Lobeserhebungen und Bitten, die ihr lest, schöner und Gott angenehmer wären als jene, die im Gebet des Herrn enthalten sind.

Es ist eine gefährliche Versuchung, sich das Gebet verleiden zu lassen, das uns Jesus Christus anempfohlen hat, um dafür von Menschen verfaßte Gebete zu gebrauchen.

Wir mißbilligen keineswegs jene Gebete, welche die Heiligen verfaßten, um die Menschen zum Lobe Gottes anzueifem, wir können nur nicht zugeben, daß man sie jenem Gebete vorziehe, das aus dem Munde der menschgewordenen Weisheit hervorgegangen ist; daß man die Quelle verlasse, um den Bächen nachzulaufen, das klare Wasser verschmähe, um das getrübte zu trinken. Denn der Rosenkranz, aus dem Gebet des Herrn und dem Engelsgruße zusammengesetzt, ist das klare und immerwährende Wasser, das aus der Gnadenquelle strömt, während die übrigen Gebete, die man in den Büchern sucht, nichts sind als kleine Bächlein, die davon abgeleitet werden.

Wir können denjenigen glücklich preisen, der, das Gebet des Herrn verrichtend, jedes Wort aufmerksam erwägt; dort findet er, was er nötig hat, alles, was er wünschen kann.

Wenn wir dieses bewunderungswürdige Gebet verrichten, gewinnen wir zuallererst das Herz Gottes, indem wir ihn mit dem süßen Namen Vater anrufen:

Vater unser, du, der zärtlichste aller Väter, allmächtig in der Schöpfung, ganz bewunderungswürdig in der Erhaltung, ganz liebenswürdig in der Vorsehung, ganz gütig, unendlich gut in der Erlösung. Gott ist unser Vater, wir alle sind Brüder, der Himmel ist unsere Heimat, unser Erbe. Ist das nicht genug, um uns zugleich die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und Losschälung von allen irdischen Dingen einzuflößen? Lieben wir also einen solchen Vater und sagen wir ihm tausend- und abertausendmal:

Vater unser, der du bist in dem Himmel. Der du den Himmel und die Erde durch die Unermeßlichkeit deines Wesens erfüllst, allgegenwärtig, der du in den Heiligen bist mit deiner Herrlichkeit, in den Verdammten mit deiner Gerechtigkeit, in den Gerechten durch deine Gnade, in den Sündern durch deine Geduld, mit der du sie erträgst, bewirke, daß wir uns immer unseres himmlischen Ursprungs erinnern, immer als deine wahren Kinder leben, und daß wir mit aller Glut unserer Wünsche nach dir hinstreben.

Geheiligt werde dein Name. "Der Name des Herrn ist heilig und fruchtbar", sagt der königliche Prophet (Ps 110,9), und nach Isaias widerhallt der Himmel vom Lobe, das die Seraphim der Heiligkeit des Herrn der Heerscharen unaufhörlich dar bringen (Is 6,2-4). In dieser Bitte verlangen wir, daß die ganze Erde die Eigenschaften des so großen und so heiligen Gottes erkenne und anbete: daß er erkannt, geliebt und angebetet werde von den Heiden, Türken, Juden, Barbaren und allen Ungläubigen, daß alle Menschen ihm dienen und ihn verherrlichen durch lebendigen Glauben, feste Hoffnung, feurige Liebe und durch die Abwendung von allem Irrtum: mit einem Worte, daß alle Menschen heilig seien, weil er selbst heilig ist.

Zu uns komme dein Reich. Mögest du in diesem Leben durch deine Gnade in unseren Seelen herrschen, damit wir verdienen, nach unserem Tode mit dir in deinem Reiche zu herrschen, denn das ist die höchste und ewige Glückseligkeit, an die wir glauben, auf die wir hoffen, und die wir erwarten, jene Glückseligkeit, die uns durch die Güte das Vaters versprochen, durch die Verdienste des Sohnes erworben, und durch das Licht des Heiligen Geistes geoffenbart worden ist.

Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden. Ohne Zweifel kann sich nichts den Absichten der göttlichen Vorsehung entziehen, die alles vorausgesehen, alles schon vor dem Eintreffen angeordnet hat; nichts kann sie von dem Ziele abbringen, das sie sich gesetzt. Wenn wir daher Gott bitten, daß sein Wille geschehe, so tun wir das nicht, sagt Tertullian, weil wir fürchten, es könnte sich jemand der Ausführung seiner Absichten wirksam widersetzen, sondern weil wir uns demütig allen seinen Anordnungen unterwerfen wollen, sodaß wir immer und in allem seinen heiligsten Willen, der uns aus seinen Geboten bekannt ist, mit jener Bereitwilligkeit, Liebe und Beharrlichkeit erfüllen, mit welcher ihm die Engel und Heiligen im Himmel gehorchen.

Unser tägliches Brot gib uns heute. Jesus Christus lehrt uns, Gott um alles zu bitten, was uns für das Leben des Leibes und der Seele notwendig ist. Durch diese Worte des Vaterunsers legen wir das demütige Geständnis unseres Elendes ab und ehren die göttliche Vorsehung, indem wir erklären, daß wir glauben, von Gottes Güte alle unsere zeitlichen Güter zu erhalten.

Mit dem Worte Brot bitten wir für heute, d.h. wir beschränken all unsere Sorge auf den heutigen Tag und überlassen uns für den morgigen der Vorsehung (Mt 6,25/34).

Wir bitten um das tägliche Brot und gestehen dadurch, daß unsere Bedürfnisse täglich wiederkehren und bezeugen so unsere fortwährende Abhängigkeit vom Schutze und der Hilfe Gottes.

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Unsere Sünden, sagen der heilige Augustin und Tertullian, sind ebensoviele Schulden, die wir uns Gott gegenüber aufladen, und seine Gerechtigkeit fordert die Bezahlung bis auf den letzten Heller. Wir alle haben diese traurigen Schulden. Trotz der großen Zahl unserer Sünden wollen wir uns also vertrauensvoll ihm nahen und mit wahrer Reue zu ihm sprechen: Vater unser, der du bist in dem Himmel, verzeihe uns die Sünden unseres Herzens und der Zunge, die Sünden, die wir durch Tat oder durch Unterlassung des Guten begangen haben und die uns in den Augen deiner Gerechtigkeit unendlich schuldbar machen. Als Kinder eines gütigen und barmherzigen Vaters verzeihen auch wir aus Gehorsam und Liebe denen, die uns beleidigt haben.

Und führe uns nicht in Versuchung. Gestatte nicht, daß wir wegen unserer Untreue gegen deine Gnaden den Versuchungen der Welt, des Teufels und des Fleisches unterliegen.

Sondern erlöse uns von dem Übel, nämlich der Sünde, von dem Übel der zeitlichen und ewigen Strafen, die wir verdient haben.

Amen. Ein trostreiches Wort, wie der heilige Hieronymus sagt, welches gleichsam das Siegel ist, das Gott an den Schluß unserer Bittschriften setzt, um uns zu versichern, daß er uns erhört hat. Es ist, als wenn Gott selbst sagte: Amen! Wie ihr gebeten, so soll es geschehen, ihr habt es in Wahrheit empfangen; denn das ist die Bedeutung des Wortes. Amen.