XVII.

DIE UNBEKANNTE WUNDERWELT

 

Wer mit offenen Augen

durch die Welt geht, sieht mehr als andere, manches auch ganz anders als die übrigen. Ist dieses Studium weniger interessant?

Über einer Ruhebank in einem Gartenhäuschen habe ich einmal den seltenen Sinnspruch gelesen: „Gott segne dir beides! Liebes und Leides.“

Könnte das für unsere ganze folgende Abhandlung nicht gleich Motto werden, Programmpunkt in unserem Tagewerk? In einem herrlichen Lied von Hugo Wolf habe ich mit Verwunderung und Freude den gleichen Gedanken entdeckt:

 

„Über Nacht, über Nacht kommt still das Leid.

Und bist du erwacht, o traurige Zeit,

Du grüßest den dämmernden Morgen

mit Weinen und mit Sorgen.

 

Über Nacht, über Nacht kommt still das Glück.

Und bist du erwacht, o selig Geschick,

Der düstere Traum ist zerronnen

und Freude ist gewonnen.

 

Über Nacht, über Nacht kommt Freud und Leid.

Und eh’ du’s gedacht, verlassen dich beid’

Und gehen, dem Herrn zu sagen,

wie du sie getragen.“

 

Die täglichen Leiden, Prüfungen, Versuchungen, Enttäuschungen, alles, was die Menschen dir Böses antun — gehen dem Herrn zu sagen, wie du sie getragen. Ob gut oder bösartig!

 

Meine Freunde!

Muß es nicht etwas Großartiges sein, wenn eine Seele sich einmal darauf einstellt, von jetzt an alles, einfach alles als Aufmerksamkeit des Heilands zu betrachten — was die inneren und äußeren Verhältnisse betrifft: Gesundheit, Güter, guter Name, Beraubungen, Trockenheit, Widerwillen, Verdruß, Versuchungen, Verleumdungen, Ungerechtigkeiten, üble Nachreden, Quälereien aller Art durch andere. Wenn sich unser Inneres im ersten Augenblick sträubt, dies als Aufmerksamkeit des Heilands anzusehen, wenn es in uns auch schreit: „Nein, das ist eine Gemeinheit der anderen.“ Sei still! Betrachte, forsche, lies den Brief, die Begleitadresse: „Denen, die Gott lieben, gereicht alles zum Besten“ (St. Paulus). Den Folgerungen dieses theologischen Satzes können wir nicht entgehen. Es heißt nicht zu jedem Backenstreich schweigen. Reden und das Recht suchen, wo es am Platz ist, aber vor allem mit dem Heiland sagen: „Vater, nicht mein Wille . . . —“

Ausgehend von dem (theologisch von allen neueren Heiligen erdrückend bewiesenen) Satz: „Gott liebt jeden einzelnen von uns unaussprechlich“, können wir kühn behaupten:

Der Heiland liebt dich wie Seinen Augapfel. Aus so vielen Aufmerksamkeiten hast du das oft genug entnehmen können. Wenn du Ihn liebst, wird Er dir alle Wünsche von deinen Augen ablesen und erfüllen, soweit es für dich gut ist. Wenn Er es dir nicht erfüllen kann, dann tut Er es auch wieder aus Liebe. Er erweist dir dafür soviel andere Aufmerksamkeiten, daß du staunst.

Wer auch nur anfängt diese Wunderwelt in sich aufzunehmen, ist entzückt. Das Gebet bekommt eine ganz andere Schwungkraft, das Vertrauen wird ungewöhnlich groß und nähert sich einer unzerstörbaren Zuversicht, der Mut zum Ertragen und Aushalten wird — eben durch die Liebe — zum Heroischen gesteigert.

Kühn sage ich: „Eine Seele, die in allem die Aufmerksamkeiten des Heilands zu sehen gewöhnt ist, trägt den Himmel in ihrem Herzen.“ „Ja“, ruft sie erstaunt aus, „alles, wirklich alles gereicht denen, die Gott lieben, zum Besten.“ Alle Ereignisse der Vorsehung — seien sie glücklich oder unglücklich — alles, was die Gesundheit, die Güter, den guten Namen betrifft; alle Verhältnisse des menschlichen Lebens.

Mit Pater Grou gehe ich noch weiter: „Alle die verschiedenen inneren Zustände, in die man allmählich kommt: Beraubungen, Trockenheit, Widerwillen, Überdruß, Versuchungen, all dies gereicht zum Besten derer, die Gott lieben.“

Wie erhaben, in all dem Aufmerksamkeiten des Heilands zu sehen! Mit dem genannten berühmten Seelenkenner und mit Schwester Benigna Consolata gehe ich aber noch einen Schritt weiter. „Selbst die Fehler und Unvollkommenheiten gereichen den gottliebenden Seelen zum Besten.“ Und von diesem Standpunkt aus dünkt es mir wie eine liebe Bestätigung vom Heiland, wenn Er durch Benigna uns sagen läßt:

„Die Unvollkommenheiten, die eine Seele hat, mißfallen Mir nicht, solange die Seele sie nicht liebt; sie rühren Mein Herz nur zum Mitleid; ich liebe die Seelen so sehr! . . . Die Unvollkommenheiten müssen für eine Seele gleichsam Leitersprossen sein, auf denen sie sich zu Gott erhebt vermittelst der Demut, des Vertrauens und der Liebe. Ich lasse Mich herab zu der Seele, die sich demütigt, und suche sie auf in ihrem Nichts, um sie mit Mir zu vereinigen.“

„Wie das Feuer sich vom Brennstoff nährt, so lassen die Armseligkeiten der Menschen die Flammen Meiner Barmherzigen Liebe auflodern, und je größer das Elend, um so heller die Flamme. Gerade so, wie das Feuer auch um so mehr auflodert, je mehr Brennstoff in dasselbe hineingeworfen wird. O Benigna! könnte man doch erkennen, wie sehr Mein Herz sich freut, wenn man an diese Liebe glaubt! Man glaubt zu wenig daran, man glaubt zu wenig, viel zu wenig! . . .“

Eine Familie kannte ich. Vater und Mutter so edel. Dazu das beglückende Bindeglied, die persongewordene Liebe zwischen Vater und Mutter: ein reizendes Kind. Fürs ganze Haus war es der Liebling. Da, nach zwei Jahren kehrt der Trauerengel ein in das Haus. Das goldige erste Kindchen, von allen so bewundert ob seiner Schönheit und Anmut, ist tot. Erkältung und Lungenentzündung waren die Ursache. Vater- und Mutterherz waren schwer getroffen. Und doch beide so gefaßt. „Gott segnet dir beides: Liebes und Leides.“ Die anderen Leute staunten, wie tapfer diese jungen Leute das ertrugen. „Hans“, sagte die Frau zu ihrem Gemahl, „innerlich habe ich dem Heiland schon gedankt für diese Wunde ... Es ist zwar eine tiefe Wunde, aber sicher eine Aufmerksamkeit des Heilands.“ Fragend schaute der junge Beamte seine Gemahlin an. „Weißt du, Hans, vielleicht wäre die große Schönheit dem Kind später zum Fall geworden. Lieber sehe ich mit Dank dieses Mädchen als Engel tot vor mir als später an der Seele verwüstet mit zertretener Lilie.“

So hatte diese herrliche Mutter die Gedanken Gottes nachgedacht und für den Tod ihres ersten Kindleins wie für eine Aufmerksamkeit des Heilands gedankt.

 

Liebe Freunde!

Es würde ein Buch füllen, wollte ich all das berichten, was an überfließenden Aufmerksamkeiten der Heiland dieser Familie geschenkt hat, namentlich in den fünf Kindern, von denen jedes auch diesen Geist der Mutter mitbekommen hat.

O glückliche Vererbung, o herrliches Erbe, möchte man da ausrufen! Wer diese Kinder schon gesehen und ihre leuchtenden Augen beobachtet hat, weiß, daß der Geist von Vater und Mutter in ihnen fortlebt.

Gebt mir ein Dutzend solcher Familien und ich erneuere eine ganze Stadt. Gebt mir ein paar Dutzend und ich erneuere damit ein ganzes Königreich!

 

Liebe Freunde!

Ist dieses Kapitel nicht wert, daß wir es zehnmal lesen, um uns in diese Gedanken einzuarbeiten, unser Leben direkt darauf einzustellen? Schreiben wir einmal die Geschichte unserer Seele von dem heute gewonnenen Standpunkt aus.

Und würden erst Priester mithelfen und auch solche Seelen heranbilden, die so denken, so reden, so handeln, dann, Heiland, würde Dir eine Verherrlichung zuteil, die Dich freuen müßte, dann würde das Angesicht der Erde erneuert.

Ist es zuviel behauptet, wenn ich sage: Es werden durch diese Übung Menschen mit ganz anderen Gesinnungen herangebildet? Selbst die schweren Kämpfer, die Schwergeprüften, die da glauben, mit dem „süßen Geflüster“ des kleinen Geheimnisses nicht mehr zurechtzukommen, haben sich der Macht des großen Geheimnisses gebeugt.