35. Betrachtung

Von dem liebevollen Aufenthalte Jesu auf den Altären des allerheiligsten Sakramentes

 

2. Punkt

Zweitens gibt Jesus Christus im Sakramente allen Gehör. Die heilige Theresia sagt: auf dieser Welt können nicht alle mit ihrem Fürsten sprechen. Die Armen dürfen sich kaum Hoffnung machen, ihn zu sprechen oder durch eine dritte Person ihm ihre Bedürfnisse vorzutragen; allein bei dem Könige des Himmels bedarf es keiner Mittelsperson. Alle, sowohl Vornehme als Arme, können ihn im heiligsten Sakramente von Angesicht zu Angesicht sprechen. Jesus nennt sich daher eine Feldblume: Ich bin eine Blume auf dem Felde und eine Lilie in den Tälern. (Hld 2,1) Diese Blume ist allen zugängig: Ich bin eine Blume auf dem Felde, d.h. wie der Kardinal Hugo erklärt: „ich lasse mich von allen finden."

Mit Jesus Christus im heiligsten Sakramente können sohin alle und zu jeder Stunde des Tages sprechen. Der heilige Petrus Chrysologus sagt in der Rede von des Erlösers Geburt im Stalle zu Bethlehem: „Die Könige geben nicht immer Audienz; oft geschieht es, daß, wenn jemand seinen Fürsten sprechen will, die Wachen ihn mit den Worten zurückweisen, jetzt sei keine Zeit zur Audienz, man soll später kommen. Unser Heiland aber wollte in einer offenen Höhle wohnen, ohne Türen, und ohne Leibwachen, damit jedermann, und zu jeder Stunde Zutritt hätte. „Hier steht keine Leibwache, die da sagt: es ist nicht Zeit." Auf dieselbe Weise befindet sich Jesus im heiligsten Sakramente. Immerfort stehen die Kirchen offen; jedermann kann, wenn er will, hingehen und mit dem Könige des Himmels sprechen. Und Jesus Christus will, daß wir mit ihm daselbst mit vollem Vertrauen reden, deshalb verhüllt er sich unter die Gestalt des Brotes. Würde sich Jesus auf den Altären auf einem hellstrahlenden Throne zeigen, wie er einst beim letzten Gerichte erscheinen wird, wer von uns würde den Mut haben, sich ihm zu nähern? Weil aber der Herr wünscht, sagt die heilige Theresia, daß wir mit Vertrauen und ohne Furcht mit ihm reden und Gnaden von ihm erlangen, deswegen hat er seine Herrlichkeit unter die unansehnliche Gestalt des Brotes verborgen. Auch Thomas von Kempis sagt, Jesus verlange, daß wir mit ihm wie mit einem Freunde umgehen: „wie ein Freund mit dem anderen zu sprechen pflegt."

Hält sich eine Seele am Fuße des Altares auf, so scheint sie Jesus mit jenen Worten des hohen Liedes anzusprechen: Stehe auf, und eile meine Freundin, meine Schöne, und komme. (Hld 2,10) Stehe auf, o meine Seele! sagte er zu ihr, eile, und fürchte dich nicht, meine Freundin, sei mir nicht mehr abhold, denn ich liebe dich ja, und du bereuest jetzt alle Beleidigungen, die du mir zugefügt hast. Meine Schöne, jetzt bist du nicht mehr häßlich in meinen Augen; denn meine Gnade hat dich schön gemacht. Komme nun, komme, mache dich auf, sage mir, was du willst. Ich bin ja deshalb auf diesem Altare, um dich anzuhören. Welche Freude würdest du haben, mein Leser, wenn dich dein König in sein geheimes Kabinett führen, und zu dir sagen würde: Sage mir, was begehrst du, was bedarfst du? Ich liebe dich und wünsche, dir Gutes zu tun. Auf gleiche Weise spricht der König des Himmels, Jesus Christus, zu allen denen, die ihn besuchen: Kommet zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, und ich will euch erquicken. (Mt 11,28)

Kommet, ihr Arme und Kranke, ihr Traurige, ich will und kann euch bereichern, gesund machen und trösten; zu diesem Ende bin ich hier auf diesen Altären gegenwärtig. Du wirst rufen, und er wird sagen: Siehe, hier bin ich! (Jes 51,9)

 

Anmutungen und Bitten

Da du also, mein geliebter Jesu, auf den Altären dich aufhältst, um die Bitten jener Armseligen zu vernehmen, die bei dir Hilfe suchen, so höre denn heute auch die Bitte, welche ich armer Sünder an dich stelle.

O Lamm Gottes, am Kreuze geopfert und gestorben! siehe, ich bin eine durch dein Blut erlöste Seele; verzeihe mir alle dir zugefügten Unbilden und hilf mir mit deiner Gnade, damit ich nicht mehr verloren gehe. Laß mich, o mein Jesus! Anteil haben an jenem Schmerze, den du im Garten Gethsemani über meine Sünden empfandest. Ach, mein Gott, hätte ich dich doch nie beleidigt. Wie, wenn ich in meinen Sünden gestorben wäre? Ach, lieber Herr! dann könnte ich dich nicht mehr lieben; du aber harrest deswegen meiner, auf daß ich dich liebe. Ich danke dir für die mir geschenkte Lebensfrist, und da ich dich nun lieben kann, so will ich dich lieben. Gib mir die Gnade deiner heiligen Liebe, aber einer solchen Liebe, die mich auf alles vergessen macht, damit ich nur allein deinem heiligsten Herzen wohlzugefallen strebe. Ach mein Jesu! Du brachtest dein ganzes Leben für mich zu; laß mich wenigstens das mir übrige Leben für dich verwenden. Ziehe mich ganz zu dir, mache mich ganz dein, ehe ich sterbe. Ich hoffe alles von den Verdiensten deines Leidens. Und auch auf deine Fürbitte hoffe ich, o Maria! Du weißt, daß ich dich liebe, erbarme dich meiner!