28. Betrachtung

Gewissensbisse der Verdammten

„Ihr Wurm stirbt nicht." (Mk 9,47)

 

1. Punkt

Unter diesem Wurme, der nicht stirbt, versteht man nach Erklärung des heiligen Thomas die Gewissensbisse, wovon der Verdammte in der Hölle ewig geplagt werden wird. Mit mannigfachen Bissen wird das Gewissen am Herzen des Bösen nagen; allein drei werden am meisten ihn peinigen: der Gedanke an das Geringfügige und die Kürze der Lust, weswegen sie sich verdammten; der Gedanke an das Wenige, was sie hätten tun sollen, um selig zu werden; und endlich der Gedanke an das große Gut, dessen sie verlustig werden. Der erste Gewissensbiß also, den der Verdammte leiden muß, wird sein: der Gedanke, für wie weniges er zu Grunde gegangen sei. Nachdem Esau jenes Linsengericht gegessen hatte, um das er seine Erstgeburt verkauft hatte, fing er, sagt die Schrift, vor Schmerz und Reue zu heulen an: Er brüllte und schrie laut auf. (Gen 27,34) O, in welch ein lautes Geheul und Gebrüll wird erst der Verdammte ausbrechen, wenn er bedenkt, daß er wegen der Befriedigung von wenigen augenblicklichen und vergifteten Gelüsten ein ewiges Reich von Freuden verloren habe, wenn er sieht, daß er auf ewig zu einem fortwährenden Tode sich verdammt sehen muß? Weit bitterer wird er weinen, als Jonathas weinte, da er von Saul, seinem Vater, zum Tode sich verurteilt sah, weil er nur ein wenig Honig aß: Ich kostete ein wenig Honig, und siehe, deswegen soll ich sterben! (1. Kön 14,43) O Gott! welche bittere Vorwürfe wird der Verdammte sich machen, wenn er die Ursache seiner Verdammung sieht? Wie erscheint uns gegenwärtig unser vergangenes Leben? Wie ein Traum, wie ein Augenblick. Wie werden erst jenem, der da in der Hölle brennt, jene fünfzig Jahre, die er auf dieser Welt lebte, vorkommen, wenn er in der Tiefe der bodenlosen Ewigkeit sich befinden wird, wo schon hunderttausend Millionen von Jahren vergangen sein werden, und er sehen wird, daß seine Ewigkeit alsdann erst beginne? Doch was sage ich, fünfzig Lebensjahre? Waren denn diese fünfzig Jahre etwa alle voll Freuden? Wie? erfreut sich der Sünder, der ohne Gott lebt, etwa stets fort über seine Sünden? Wie lange währen denn die Freuden der Sünde? Einige wenige Augenblicke, und die ganze übrige Zeit ist für einen, der in Gottes Ungnade lebte, eine Zeit von Peinen und Qualen! Wie werden nun dem armen Verdammten jene Augenblicke vorkommen? Und wie wird ihm vorzüglich diese eine und letzte Sünde, die er begangen hat, erscheinen, wegen welcher er zu Grunde gegangen ist. Wegen eines elenden viehischen Genusses also, der einen Augenblick lang dauerte, und kaum genossen, wie der Wind vorübereilte, werde ich, wird er sagen, in diesem Feuer sein und brennen müssen, voll Verzweiflung, und verlassen von allen, so lange Gott Gott sein wird, in alle Ewigkeit!

 

Anmutungen und Bitten

Herr, erleuchte mich, damit ich die Ungerechtigkeit erkenne, die ich gegen dich verübte, indem ich dich beleidigte, und die ewige Strafe, welche ich mir dadurch zuzog. Mein Gott! ich empfinde einen heftigen Schmerz, daß ich dich beleidigte, doch dieser Schmerz tröstet mich; hättest du mich, wie ich es wohl verdiente, in die Hölle verstoßen, so wäre dieser Gewissensbiß die Hölle meiner Hölle; wenn ich bedächte, wegen welcher Kleinigkeit ich mich verdammte; jetzt aber verursacht mir, sage ich, dieser Gewissensbiß Trost, indem er mir Mut gibt, von dir Verzeihung zu hoffen, da du jenem zu verzeihen versprachst, der Reue hat. Ja, mein Herr, es reuet mich, dich beschimpft zu haben, ich nehme diesen süßen Schmerz an, ja, ich bitte dich sogar, ihn zu vergrößern, und bis zum Tode mir ihn zu lassen, damit ich immer die dir zugefügten Unbilden bitter beweine. Mein Jesu, vergib mir! O mein Erlöser! der du, um dich meiner erbarmen zu können, deiner selbst nicht schontest, indem du dich dazu verurteiltest, vor Schmerz zu sterben, um von der Hölle mich zu bewahren, erbarme dich doch meiner! Mach also, daß der Gewissensbiß über meine Sünden beständig mich quäle, und mich zugleich zur Liebe gegen dich ganz entflamme; der du mich so sehr liebtest, und mit so großer Geduld ertrugst, und nun, anstatt mich zu bestrafen, mich mit Erleuchtungen und Gnaden bereicherst. Ich danke dir dafür, mein Jesu, und ich liebe dich; ja, ich liebe dich mehr, als mich selbst, ich habe dich von ganzem Herzen lieb. Du kannst ja jenen nicht verschmähen, der dich liebt. Ich liebe dich, verstoße mich nicht von deinem Angesichte. Nimm mich wieder auf in deine Gnade, und lasse mich dich nicht mehr verlieren. Maria, meine Mutter, nimm mich zu deinem Diener auf, und vereinige mich mit Jesu, deinem Sohne. Bitte ihn, er möchte mir doch verzeihen, und mir seine Liebe und die Gnade der Beharrlichkeit bis ans Ende verleihen.