18. Betrachtung

Von der Zahl der Sünden

„Weil das Urteil über die Bösen nicht alsobald gefällt wird,

so verüben die Menschenkinder Böses."

(Eccl 8,ll)

 

1. Punkt

Würde der Herr jenen, der ihn beleidigt, sogleich bestrafen, so sähe er sich gewiß nicht so sehr verunehrt, wie es ihm jetzt geschieht; weil aber der Herr nicht alsogleich straft, sondern mit der Strafe zuwartet, deswegen bekommen die Sünder Mut, ihn um so mehr zu beleidigen. Man muß jedoch wissen, daß Gott zwar warte und gedulde, allein nicht immer wartet und duldet er. - Es ist ein Ausspruch vieler heiliger Väter: des heiligen Basilius, des heiligen Hieronymus, des heiligen Ambrosius, des heiligen Cyrillus Alexandrinus, des heiligen Johannes Chrysostomus, des heiligen Augustinus und anderer, daß Gott, sowie er für jeden Menschen die Zahl der Lebensjahre, das Maß der Gesundheit oder der Geistesgaben, die er ihm geben will, bestimmte - Alles bestimmtest du nach Maß, Ziel und Gewicht (Weish 21,21) - ebenso jedem die Zahl der Sünden, welche er ihm vergeben wolle, festgesetzt habe, nach deren Erfüllung er nicht mehr verzeiht. „Dies müssen wir hören - sagt der heilige Augustinus -, daß Gottes Geduld einen so lange ertrage, bis sie erschöpft und für den Sünder keine Verzeihung mehr stattfinde." (De vita Christi Cap. 9) Ebendasselbe sagt Eusebius von Cäsarea: „Gott wartet bis zu einer bestimmten Menge von Sünden und dann verläßt er den Sünder." (Lib. 8, Cap. 2) Und das nämliche sagen die anderen oben erwähnten heiligen Väter.

Die Aussprüche dieser Väter geschahen nicht etwa aufs Geratewohl, sondern sie sind auf die göttliche Schrift gegründet. An einer Stelle sagt der Herr, er bewahre die Amorrhiter deswegen noch vor dem Sturze, weil das Maß ihrer Schulden noch nicht erfüllt wäre: Die Ungerechtigkeiten der Amorrhiter sind noch nicht erfüllt. (Gen 15) An einer anderen Stelle heißt es: Ich will mich Israels ferner nicht erbarmen. (Jes 19) Wieder an einer anderen: Sie versuchten mich zehn Mal; nun sollen sie das Land nimmer sehen. (Num)

Anderswo sagt Job: Meine Übertretungen hast du wie in einem Säcklein versiegelt. (14,17) Die Sünder führen über ihre Sünden keine Rechnung, wohl aber Gott, um zu strafen, wenn die Saat reif ist, das heißt, sobald das Maß erfüllt ist. Setzet die Sichel an, denn die Ernte ist reif worden. (Joel 3,13) An einer anderen Stelle sagt Gott: Wegen der verziehenen Sünde sei nicht ohne Furcht und begehe nicht eine Sünde über die andere. (Eccl 5,5) Er will damit sagen: Sünder, du mußt auch jener Sünden wegen in Furcht sein, die ich dir verziehen habe; denn wenn du wieder eine begehest, so kann es geschehen, daß die neue Sünde samt den verziehenen das Maß voll mache, und dann wird für dich keine Barmherzigkeit mehr stattfinden. An einer anderen Stelle sagt die Schrift deutlicher: Der Herr wartet mit Geduld, daß er sie, wann der Tag des Gerichtes kommen und das Maß der Sünden erfüllt sein wird, strafe. (2 Makk 6,14) Gott wartet also bis auf den Tag, an dem das Maß der Sünden voll wird, und dann straft er.

Von dieser Strafe gibt es in der heiligen Schrift gar viele Beispiele. Hierher gehört besonders Saul, den Gott, als er ihm das letzte Mal ungehorsam war, derart verließ, daß ihm Samuel auf seine Bitte, er möchte beim Herrn für ihn bitten: Aber nun bitte ich dich, nimm meine Sünden hinweg und kehre mit mir zurück, daß ich den Herrn anbete! antwortete: Ich will nicht mit dir zurückkehren; weil du Gottes Wort verworfen hast, darum verwirft dich auch der Herr (1 Kön 15,25) Ein anderes Beispiel haben wir an Belschazzar, welcher bei der Tafel die heiligen Gefäße des Tempels entheiligte und alsdann eine Hand an die Wand schreiben sah: „Mane, Thekel, Phares." Es kam Daniel, legte ihm diese Worte aus und sagte unter anderem zu ihm: Du bist auf der Waage gewogen und zu leicht befunden worden. (Dan 5,27) Dadurch gab er ihm zu verstehen, daß das Gewicht seiner Sünden die Waage der göttlichen Gerechtigkeit schon überwogen habe; und in der nämlichen Nacht wurde er wirklich getötet. In derselben Nacht wurde Belschazzar, der Chaldäer König, umgebracht. Ach, wie vielen Armseligen, die viele Jahre in den Sünden dahinleben, geschieht nicht das nämliche! Ist die Zahl ihrer Sünden voll, so werden sie vom Tode ergriffen und in die Hölle gestürzt: Sie bringen ihre Tage im Wohlleben zu und in einem Augenblicke fahren sie zur Hölle. (Job 21,23) Einige wollen mittelst ihrer Forschung die Anzahl der Sterne, die Menge der Engel oder die Zahl der Lebensjahre, die jemand haben wird, entziffern; wer aber kann sich auf Erforschung der Sündenzahl verlegen, die einem Gott verzeihen will? Und deshalb muß man zittern. Wer weiß, mein Bruder, ob dir Gott die erste unanständige Freude, den ersten freiwilligen bösen Gedanken, die erste Sünde, die du dir erlauben wirst, wieder verzeihen werde?

 

Anmutungen und Bitten

Ach, mein Gott, wie sehr bin ich verbunden, dir zu danken! So viele sind wegen weniger Sünden, als ich begangen habe, jetzt schon in der Hölle, und es gibt keine Verzeihung, keine Hoffnung mehr für sie! Und ich bin noch am Leben, außerhalb der Hölle, und habe Hoffnung zur Vergebung und zum Himmel, wenn ich ernstes Verlangen darnach trage. Ja, mein Gott! ich verlange Verzeihung. Ich bereue über alles Übel, dich beleidigt zu haben, weil ich dich, unendliche Güte! entehrte. Ewiger Vater, schaue auf das Angesicht deines Gesalbten! schaue deinen am Kreuze für mich gestorbenen Sohn an, und um seiner Verdienste willen erbarme dich meiner! Ich verspreche dir, lieber sterben, als dich wieder beleidigen zu wollen. Mit Recht muß ich fürchten, es möchte nach den Sünden und den von dir erhaltenen Gnaden, mein Sündenmaß voll werden, wenn noch eine Sünde hinzukäme, und - ich würde der Verdammnis anheimfallen! Ach! hilf mir doch mit deiner Gnade. Von dir hoffe ich das Licht, und die Stärke, dir treu zu bleiben. Und siehst du etwa, daß ich neuerdings dich beleidigen sollte, so lasse mich jetzt in diesem Augenblicke sterben, da ich hoffe, in deiner Gnade zu sein. Dich, mein Gott, liebe ich über alles, und ich fürchte mehr als den Tod, wieder in deine Ungnade zu geraten; laß es doch um deiner Liebe willen nicht geschehen. - Maria, meine Mutter! hilf mir! um deiner Liebe willen erhalte mir die heilige Beharrlichkeit.