11. Betrachtung

Wert der Zeit

„Mein Sohn, wende die Zeit wohl an " (Eccl 4,23)

 

1. Punkt

Mein Sohn, sagt der heilige Geist, sei bedacht, die Zeit wohl anzuwenden, da sie das kostbarste und größte Geschenk ist, welches Gott einem Menschen, der da lebt, geben kann. Auch die Heiden erkannten es, wie kostbar die Zeit sei. Seneca sagt, der Wert der Zeit lasse sich nicht schätzen: „Die Zeit ist unschätzbar". Noch höher schätzten die Heiligen die Zeit. Der heilige Bernardinus von Siena sagte, ein Augenblick Zeit gelte so viel, als Gott wert ist: denn in jedem Augenblicke könne man durch einen Akt der Reue oder der Liebe die göttliche Gnade und die ewige Herrlichkeit sich erlangen. „In geringer Zeit kann der Mensch die Gnade und Herrlichkeit gewinnen. Die Zeit ist ebensoviel wert als Gott; denn in der gut zugebrachten Zeit wird Gott erworben." (S. Bern. Ser. Fer. IV. post Dom. 1. Quad. Cap 4)

Die Zeit ist ein Schatz, den man nur in diesem Leben findet; im anderen findet man ihn nicht, weder in der Hölle noch im Himmel. In der Hölle sagen die Verdammten weinend: O gäbe es noch eine Stunde! Um jeden Preis würden sie eine Stunde Zeit bezahlen, in der sie ihrem Unglücke abhelfen könnten; allein diese Stunde werden sie nie bekommen. Im Himmel weinet man zwar nicht: doch, könnten die Seligen weinen, so würden sie es nur darum tun, daß sie in diesem Leben die Zeit verloren haben, in der sie eine noch größere Herrlichkeit hätten erlangen können; und diese Zeit können sie nicht mehr haben. Eine Benediktiner-Nonne erschien nach ihrem Tode in ihrer Verklärung einer Person und sagte zur selben, sie wäre vollkommen zufrieden; wenn sie aber etwas wünschen könnte, so wäre es das, wieder ins Leben zu kommen und da zu leiden, um dadurch eine noch größere Herrlichkeit sich zu verdienen; und sie wäre, sprach sie, froh, wenn sie ihre schmerzhafte Krankheit, die sie im Tode hatte, bis zum letzten Gerichtstage hätte ausstehen müssen, um jene Glorie sich zu erwerben, die für das Verdienst eines einzigen Ave Maria erlangt wird.

Und du, mein Bruder, wozu wendest du die Zeit an? Warum verschiebst du immer auf morgen, was du heute tun kannst? Bedenke, daß die vergangene Zeit nicht mehr dein sei; die künftige ist nicht in deiner Macht; nur die gegenwärtige hast du, um gut zu handeln. „Was tust du, Elender, dir auf die Zukunft zugute, warnt der heilige Bernardus, als hätte der Vater dir die Zeiten in die Gewalt gegeben?" (Serm. de part. etc) Und der heilige Augustinus sagt: „Hast du über einen Tag Gewalt, da du sie nicht einmal über eine Stunde hast? Wie kannst du dir den morgigen Tag versprechen, da du nicht einmal weißt, ob du noch eine Stunde leben werdest?" Bist du also heute nicht zum Tode bereit, so befürchte, schließt die heilige Theresia, übel zu sterben.

 

Anmutungen und Bitten

O mein Gott! Ich danke dir für die Zeit, die du mir gibst, um die Unordnungen des vergangenen Lebens gut zu machen. Wenn ich in diesem Augenblicke sterben müßte, so wäre es einer meiner größten Schmerzen, an die verlorene Zeit zu denken. Ach, mein Herr! du gabst mir die Zeit, um dich zu lieben, und ich brachte sie in Beleidigungen gegen dich zu. Vom ersten Augenblicke an, in dem ich dir den Rücken kehrte, hätte ich verdient, von dir in die Hölle verstoßen zu werden; doch du riefest mich zur Buße und vergabst mir. Ich versprach dir, dich nicht mehr zu beleidigen; allein wie oft beschimpfte ich dich aufs Neue, und du - hast mir neuerdings verziehen! Deine Barmherzigkeit werde in Ewigkeit gepriesen. Wäre sie nicht unendlich, wie hätte sie mich so lange ertragen können? Wer hätte mit mir eine so große Geduld haben können, wie du gegen mich hattest? O wie schmerzt es mich, einen so guten Gott beleidigt zu haben! Mein teurer Heiland! die Geduld, die du mit mir hattest, sollte allein schon mich zur Liebe gegen dich entzünden. Ach, laß nicht zu, daß ich deiner Liebe, die du zu mir trugst, wieder undankbar sei. Mache mich von allem los und feßle mich an deine Liebe. Nein, mein Gott! ich will die Zeit nicht mehr verschwenden, die du mir gönnest, um das verübte Böse gut zu machen: ich will sie ganz in deinem Dienste und in Liebe zu dir zubringen. Gib mir die heilige Beharrlichkeit. Ich liebe dich, o unendliche Güte und hoffe, dich in Ewigkeit zu lieben. Ich danke dir, o Maria! du erflehtest mir diese Lebensfrist; stehe mir jetzt bei und mache, daß ich sie ganz in Liebe zu deinem Sohne, meinem Erlöser, und zu dir, meiner Königin und Mutter, zubringe.