Die Macht des Gebetes

 

Verzeichnis

 

Einleitung (Die notwendig zu lesen ist)

Erstes Kapitel: Von der Notwendigkeit des Gebetes

Zweites Kapitel: Von der Kraft des Gebetes

Drittes Kapitel: Von den Eigenschaften des Gebetes

§ 1: Von der Demut, mit der man beten muß

§ 2: Von dem Vertrauen, mit welchem wir beten müsse

§ 3: Von der Beharrlichkeit im Gebete

 

 

Einleitung

(die notwendig zu lesen ist)

Ich habe mehrere geistliche Schriften veröffentlicht: die Besuchungen des allerheiligsten Altarssakraments, die Betrachtungen über das Leiden Jesu Christi, die Herrlichkeiten der allerseligsten Jungfrau, ein Werk gegen die Materialisten und Deisten und einige Andachtsbüchlein. In letzter Zeit habe ich auch noch ein Buch über die heiligste Kindheit Jesu Christi unter dem Titel: „Neuntägige Andacht vor Weihnachten“ und ein anderes: „Vorbereitung zum Tod“ herausgegeben, außer dem Buche über die ewigen Wahrheiten, das sich zur Betrachtung eignet und zugleich den Predigern sehr gute Dienste leisten kann, und dem ich neun Reden für die Zeit öffentlicher Drangsale beigefügt habe. Ich glaube jedoch niemals ein nützlicheres Buch verfaßt zu haben als das vorliegende, worin ich von dem Gebete handle, weil das Gebet das notwendigste und sicherste Mittel ist, unser Heil zu wirken und alle hierzu nötigen Gnaden zu erlangen. Wenn es in meiner Macht stünde, möchte ich von diesem Büchlein so viele Exemplare drucken lassen, als es Gläubige auf Erden gibt, und jedem ein Exemplar zuschicken, damit jeder von der Überzeugung durchdrungen werde, daß wir beten müssen, wenn wir unsere Seelen retten wollen.

Ich sage dies einerseits in Anbetracht, daß die Notwendigkeit des Gebetes eine schlechthin unerläßliche ist und in den Heiligen Schriften und von allen heiligen Vätern so sehr eingeschärft wird, und andererseits, weil mich die Erfahrung gelehrt hat, daß dieses große Heilsmittel von den Christen wenig benützt wird. Am meisten aber betrübt es mich, daß die Prediger und Beichtväter so geringes Gewicht darauf legen, ihre Zuhörer und ihre Beichtkinder zum Gebete aufzumuntern, und daß selbst in den geistlichen Büchern, die heutzutage am meisten verbreitet sind, nicht genügsam von der Notwendigkeit des Gebetes gesprochen wird, während doch alle Prediger, Beichtväter und alle geistlichen Schriftsteller nichts wärmer und eindringlicher empfehlen und einschärfen sollten als das Gebet. Sie empfehlen den Gläubigen allerdings viele vortreffliche Mittel, um sich in der Gnade Gottes zu erhalten: die Flucht der bösen Gelegenheiten, den öfteren Empfang der heiligen Sakramente, den Widerstand gegen die Versuchungen, die Anhörung des göttlichen Wortes, die Betrachtung der ewigen Wahrheiten und ähnliche Mittel, die alle, wie ich durchaus nicht leugne, sehr nützlich sind, allein ich frage: was helfen ohne das Gebet die Predigten, die Betrachtungen und alle anderen Mittel, welche die Geisteslehrer angeben, nachdem der Herr erklärt hat, daß Er seine Gnaden nicht verleihen wolle, wenn Er nicht darum gebeten wird? „Bittet und ihr werdet empfangen.“ Ohne das Gebet werden, wenigstens nach dem gewöhnlichen Gange der göttlichen Vorsehung, alle unsere Betrachtungen, unsere guten Vorsätze und unsere Versprechungen fruchtlos sein. Wenn wir nicht beten, werden wir den Erleuchtungen, die wir von Gott empfangen, nicht nachkommen, und den Versprechungen, die wir Ihm gemacht haben, nicht treu bleiben; denn um dann, wann die Zeit gekommen ist, das Gute wirklich zu tun, die Versuchungen zu überwinden, die Tugenden zu üben, mit einem Worte die Gebote Gottes vollständig zu beobachten, reichen die früheren Erleuchtungen, Betrachtungen und Vorsätze nicht hin, sondern es wird hierzu erfordert, daß Gott uns zur Zeit des Handelns mit seiner Gnade beistehe; diesen rechtzeitigen Beistand aber verleiht Gott, wie wir weiter unten sehen werden, nur denjenigen, die Ihn darum bitten und beharrlich bitten. Die Erleuchtungen, Betrachtungen und guten Vorsätze dienen dazu, daß wir zur Zeit der Versuchung und der Gefahr, die Gebote Gottes zu übertreten, wirklich beten, und durch das Gebet den göttlichen Beistand erlangen, der uns vor der Sünde bewahrt. Wenn wir aber dann nicht beten, sind wir verloren.

Ich wollte diese Erklärungen vorausschicken, damit du, mein geliebter Leser, Gott dankest, daß Er dir mittels dieses Büchleins die Gnade verleiht, besser die große Bedeutung des Gebetes zu verstehen; denn alle Erwachsenen, die gerettet werden, retten sich nach der gewöhnlichen Ordnung der Dinge nur durch das Mittel des Gebetes. Und deshalb sage ich, daß du Gott danken sollst, weil Gott denjenigen eine übergroße Barmherzigkeit erweist, denen Er das Licht der Erkenntnis und die Gnade zu beten verleiht. Ich hoffe, daß du nach dem Lesen dieses meines Büchleins es nie mehr unterlassen wirst, in jeder Versuchung, die dich überfällt, sogleich zu beten und zu Gott deine Zuflucht zu nehmen. Solltest du dir, was dein früheres Leben betrifft, viele Sünden vorzuwerfen zu haben, so sei überzeugt, daß die Ursache die war, weil du es vernachlässigt hast, zu beten und Gott um Hilfe anzurufen, um den Versuchungen, die dich überfielen, zu widerstehen. Lies also dieses Büchlein und lies es abermals; ich sage dies nicht, weil ich es verfaßt habe, sondern weil dir der Herr damit ein Mittel, dein ewiges Heil zu wirken, in die Hände gibt, und dich auf besondere Weise erkennen läßt, daß Er dich im Himmel haben will. Wenn du es aber gelesen hast, so bitte ich dich, es auch, soweit dies geschehen kann, deinen Freunden und anderen Personen mitzuteilen, mit welchen du in Verbindung stehst. Nun wollen wir aber beginnen im Namen des Herrn.

Der Apostel schreibt an Timotheus: „Vor allem ermahne und empfehle ich dringend, flehentliche Anrufungen und Gebete, Bitten und Danksagungen zu verrichten“ (1 Tim 2,1). Der heilige Thomas gibt über diesen Text folgende Erklärungen (II II, 38,17). Das Gebet ist eine Erhebung des Geistes zu Gott. Durch die Bitten oder das Bittgebet begehren wir etwas von Gott, entweder eine bestimmte Sache, die wir namentlich bezeichnen, oder seinen Beistand im allgemeinen, z. B. wenn wir sprechen: „Gott merke auf meine Hilfe, eile, mir beizustehen. „ Durch die flehentlichen Anrufungen beschwören wir Gott in frommer Weise, uns eine Gnade zu verleihen, z. B. wenn wir sprechen: „Durch dein heiliges Kreuz und dein bitteres Leiden, befreie uns, o Herr!“ Durch die Danksagungen endlich danken wir Gott für empfangene Wohltaten, wodurch wir uns, wie der englische Lehrer bemerkt, würdig machen, noch größere Gnaden und Wohltaten zu empfangen. Im engeren Sinne, sagt der Heilige, ist beten so viel als zu Gott seine Zuflucht nehmen, im weiteren aber schließt es alle eben genannten Arten ein, und in diesem weiteren Sinne werden auch wir in der Folge das Wort „Gebet“ gebrauchen.

Um nun das Gebet liebzugewinnen und dieses große Heilsmittel eifrig zu benützen, muß vor allem erwogen werden, wie notwendig uns das Gebet ist und welche Kraft es hat, uns von Gott alle Gnaden, die wir begehren, zu erlangen, wenn wir so darum bitten, wie es sich gebührt. Ich werde daher in diesem Teil von der Notwendigkeit und der Kraft des Gebetes und hierauf von den Eigenschaften sprechen, welche das Gebet besitzen muß, um vor Gott wirksam zu sein. In dem zweiten Teile werde ich alsdann beweisen, daß die Gnade zu beten allen Menschen verliehen wird, und zeigen, wie die Gnade wirkt in dem ordentlichen und gewöhnlichen Gange der göttlichen Vorsehung.

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Erstes Kapitel: Von der Notwendigkeit des Gebetes

Der Irrtum, daß das Gebet nicht notwendig sei, um selig zu werden, wurde schon von den Pelagianern gelehrt. Ihr unseliger Meister Pelagius behauptete, der Mensch gehe nur dann zugrunde, wenn er es vernachlässigt, die Wahrheiten zu erkennen, die uns zu wissen notwendig sind. „In alles geht er eher ein, als daß er bete“, sagte der heilige Augustinus (De nat. et grat., c. 17). Pelagius sprach von allen möglichen Dingen, nur nicht vom Gebete, dem einzigen Mittel, die Wissenschaft der Heiligen zu erwerben, wie eben der heilige Augustinus lehrte und verteidigte, und wie dies der Apostel Jakobus bezeugt: „Wenn jemand der Weisheit bedarf, so begehre er sie von Gott, welcher allen reichlich und ohne harte Worte gibt.“ (Jak 1,5).

Die Texte der Heiligen Schrift, welche die Notwendigkeit des Gebetes, um selig zu werden, beweisen, sprechen sich ganz klar und bestimmt hierüber aus: „Man muß immer beten und nicht ablassen“ (Lk 18,1); „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet“ (Joh 4,2); „Bittet und es wird euch gegeben werden“ (Mt 7,7). Nach der einstimmigen Lehre der Theologen wird durch die Worte „man muß beten“, „betet“, „bittet“ eine Notwendigkeit bezeichnet und ein förmliches Gebot ausgedrückt. Wyclif behauptete, diese Texte seien nicht vom Gebet, sondern nur von der Notwendigkeit der guten Werke zu verstehen, so daß Beten in seinem Sinne nichts anderes wäre, als recht tun und gute Werke verrichten; allein die Kirche hat diese Behauptung ausdrücklich für einen Irrtum erklärt und verdammt. Deshalb sagt der gelehrte Leonhard Lessius, man könne die Notwendigkeit des Gebetes, um selig zu werden, nicht leugnen, ohne gegen den Glauben zu verstoßen: „Man muß als eine Glaubenswahrheit festhalten, daß das Gebet den Erwachsenen zu ihrem ewigen Heil notwendig ist, wie aus den Heiligen Schriften erhellt, weil das Gebet das Mittel ist, ohne welches wir den zu unserem Heil notwendigen Beistand nicht erlangen können“ (De just. lib 2. c.37. dub.3. n.9).

Der Grund dieser Notwendigkeit ist klar, weil wir nämlich ohne den Beistand der Gnade nichts tun können: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5). Der heilige Augustinus bemerkt zu diesen Worten, der Herr habe nicht gesagt: „Ohne mich könnt ihr nichts vollbringen“, sondern: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Damit wollte Er uns belehren, daß wir ohne seine Gnade nicht einmal anfangen können, etwas Gutes zu tun. Ja der Apostel bezeugt, daß wir nicht einmal ein Verlangen danach tragen können: „Nicht, daß wir imstande sind, aus uns selbst etwas zu denken, wie aus eigener Kraft; sondern unser Vermögen ist aus Gott“ (2 Kor 3,5). Wenn wir also an das Gute nicht einmal zu denken vermögen, so sind wir noch viel weniger vermögend, ein Verlangen danach zu tragen. Dasselbe wird auch in vielen anderen Texten der Heiligen Schrift ausgesprochen: „Gott ist es, der alles in allen wirkt“ (1 Kor 12,6); „Ich will machen, daß ihr nach meinen Geboten wandelt, mein Gesetz bewahrt, und danach tut“ (Ez 36,27). Deshalb sagt der heilige Papst Leo: „Der Mensch tut nichts Gutes, wenn Gott nicht gewährt, daß der Mensch es tue“ (In Conc. Aur. can.20). Wir sind nicht imstande, etwas Gutes zu tun außer demjenigen, das uns Gott durch den Beistand seiner Gnade tun läßt. Und deshalb hat das Konzil von Trient über alle das Anathem ausgesprochen, die behaupten würden, der Mensch könne, ohne die zuvorkommende Eingebung des Heiligen Geistes und dessen Beistand glauben, hoffen, lieben oder Buße wirken, wie es notwendig ist, um die Gnade der Rechtfertigung zu erlangen (Sess. Vl. can.3).

Der Verfasser des sogenannten „unvollkommenen Werkes“ sagt, Gott habe einige Tiere mit einem schnellen Laufe, andere mit Flügeln, andere mit Klauen oder mit anderen Mitteln, sich zu erhalten und zu verteidigen, ausgerüstet; was aber den Menschen betrifft, so habe Er selbst die Kraft des Menschen sein wollen (Auct. Op. imperf. hom. 18). Wir sind durchaus unvermögend, aus uns selbst unser Heil zu wirken, weil Gott wollte, daß wir alles, was wir haben oder haben können, durch den Beistand seiner Gnade empfangen.

Diesen Beistand seiner Gnade verleiht aber Gott in der gewöhnlichen Ordnung der Dinge nur denjenigen, die Ihn darum bitten; wie dies Gennadius in jenen berühmten Worten ausgesprochen hat: „Wir glauben, daß keiner zur Seligkeit gelangt, wenn Gott ihn nicht dazu einlädt; daß kein Geladener sein Heil wirke, wenn Gott ihm nicht beisteht; daß keiner diesen Beistand verdiene, wenn er nicht betet“ (Lib. de Eccl. d, m inter Op. S. Augustini). Wenn es nun einerseits feststeht, daß wir ohne den Beistand der göttlichen Gnade nichts vermögen, und andererseits, daß Gott auf den gewöhnlichen Wegen seiner Vorsehung diesen Beistand nur denen verleiht, die Ihn darum bitten, so muß jedem die Schlußfolgerung einleuchten, daß das Gebet uns unerläßlich notwendig ist, um selig zu werden. Es gibt allerdings gewisse erste Gnaden, die der Grund und Anfang aller übrigen Gnaden sind und die ohne Mitwirkung von unserer Seite verliehen werden, wie z.B. der Ruf zum Glauben und zur Buße, und der heilige Augustinus sagt von diesen Gnaden, daß Gott sie auch solchen verleihe, die Ihn nicht darum bitten. Was aber die anderen Gnaden, besonders die Gnade der Beharrlichkeit betrifft, so hält er für gewiß, daß sie ohne das Gebet nicht verliehen werden: „Gott gibt einige Gnaden, wie den Anfang des Glaubens, den nicht Betenden, andere aber, wie die Beharrlichkeit, hat Er nur den Betenden vorbehalten“ (Lib. de persev., cap.5).

Deshalb ist es auch die allgemeine Lehre der Theologen, des heiligen Basilius, des heiligen Johannes Chrysostomus, des Clemens von Alexandrien und anderer, wie auch des eben genannten heiligen Augustinus, daß das Gebet den Erwachsenen notwendig sei, und zwar nicht nur, weil es ein göttliches Gebot ist, sondern auch, weil es in sich selbst ein notwendiges Mittel ist, um selig zu werden. Das heißt mit anderen Worten: Nach der gewöhnlichen Ordnung der Dinge ist es unmöglich, daß ein Gläubiger sein Heil wirke, wenn er nicht betet und Gott um die zu seinem Heil notwendigen Gnaden bittet. Dasselbe lehrt der heilige Thomas: „Nach der Taufe ist dem Menschen das unablässige Gebet notwendig, um in den Himmel einzugehen, denn wenn auch durch die Taufe die Sünden nachgelassen werden, so bleibt doch immer noch der Zunder der Sünder, die Begierlichkeit, die uns in unserem Inneren bekämpft, und die Welt und der böse Feind, die uns von außen bekämpfen“ (III, 39,5). Der Grund also, welchen der englische Lehrer anführt, und welcher uns von der Notwendigkeit des Gebetes überzeugen muß, beruht in Kürze auf folgenden einfachen Schlüssen. Um in den Himmel einzugehen, müssen wir kämpfen und überwinden: „Wer im Wettkampfe kämpft, wird nicht gekrönt, wenn er nicht rechtmäßig gekämpft hat“ (2 Tim 2,5). Ohne den göttlichen Beistand können wir den Angriffen so vieler und so gewaltiger Feinde nicht widerstehen. Dieser göttliche Beistand wird uns aber nicht anders als mittels des Gebetes verliehen: Folglich gibt es ohne das Gebet kein Heil.

Daß das Gebet das einzige Mittel sei, um in der gewöhnlichen Ordnung von Gott Gnaden zu erlangen, spricht der englische Lehrer noch deutlicher an einem anderen Orte aus, wo er sagt, daß uns Gott alle Gnaden, die Er uns zu erteilen von Ewigkeit vorbestimmt hat, uns durch kein anderes Mittel verleihen wolle als durch das Mittel des Gebetes (II II, 83,2). Dasselbe lehrt auch der heilige Gregor: „Durch das Gebet verdienen die Menschen, das zu empfangen, was Gott ihnen von Ewigkeit zu geben beschlossen hat“ (Lib. I. Dial. c.8). Nicht deshalb ist das Gebet notwendig, sagt der heilige Thomas, damit Gott unsere Bedürfnisse erkenne, sondern damit wir erkennen, daß wir zu Gott unsere Zuflucht nehmen müssen, um rechtzeitig den zu unserem Heil notwendigen Beistand zu erhalten, und daß Gott es ist, von welchem alles Gute in uns herrührt: „Damit wir“, sind die Worte des Heiligen, „erwägen und einsehen, daß wir zur Hilfe Gottes unsere Zuflucht nehmen müssen, und erkennen, daß Er der Urheber alles Guten ist, das wir besitzen“ (loc. cit. ad 1 ). Gleichwie Gott angeordnet hat, daß wir das Getreide aussäen und den Weinstock pflanzen müssen, um Brot und Wein zu haben: so war es auch sein Wille, daß wir die zu unserem Heile nötigen Gnaden durch das Mittel des Gebetes empfangen sollten: „Bittet und ihr werdet empfangen, suchet und ihr werdet finden“ (Mt 7,7).

Kurz, wir sind nichts anderes als arme Bettler, die nur das haben, was Gott ihnen als Almosen zukommen läßt. „lch aber bin ein Bettler und arm“ (Ps 39,18). Der Herr will uns seine Gnaden mitteilen, sagt der heilige Augustinus, es ist dies sein Wunsch und sein Verlangen, aber nur, wenn Er darum gebeten wird. „Gott will geben, aber Er gibt nur dem Bittenden“ (In Psalm 100). Der Herr selbst bezeugt dies, da Er spricht: „Bittet, so wird euch gegeben werden.“ Wer also nicht bittet, fügt die heilige Theresia hinzu, empfängt nichts. Gleichwie, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, den Pflanzen die Feuchtigkeit notwendig ist, um nicht zu verdorren und auszusterben, so ist uns das Gebet notwendig, um zu dem ewigen Leben zu gelangen (Tom. 1, hom. 67). An einem anderen Orte sagt derselbe Heilige, daß das Gebet ebenso das Leben der Seele erhält, wie die Seele den Körper erhält: „Gleichwie der Leib ohne die Seele nicht leben kann, so ist auch die Seele ohne das Gebet tot und übelriechend.“ Er sagt „übelriechend“, denn eine Seele, die vom Gebet abläßt, wird bald anfangen, den faulen Geruch der Sünde zu verbreiten. Das Gebet wird auch eine Nahrung der Seele genannt, weil, wie der heilige Augustinus sagt, ohne Gebet das Leben der Seele ebensowenig erhalten werden kann wie ohne Nahrung das Leben des Leibes: „Wie das Fleisch durch die Speise, so wird die Seele des Menschen durch das Gebet genährt.“ Alle diese Gleichnisse, deren sich die heiligen Väter bedienen, zielen dahin, ihre Lehre von der unerläßlichen Notwendigkeit des Gebetes, um selig zu werden, zu erläutern.

Das Gebet ist überdies die Waffe, die wir zur Verteidigung unserer Feinde am nötigsten haben: wer sich dieser Waffe nicht bedient, sagt der heilige Thomas, ist verloren. Der englische Lehrer hält für gewiß, daß Adam deshalb gefallen sei, weil er in der Versuchung nicht Gott um Hilfe anrief: „Er sündigte, weil er nicht zu dem Beistand Gottes seine Zuflucht nahm.“ Dasselbe sagt der heilige Gelasius von den gefallenen Engeln: „Sie empfingen die Gnade Gottes vergeblich, denn da sie nicht beteten, konnten sie in der Gnade nicht bestehen“ (Epist. 5 ad ep. in P.). Der heilige Karl Borromäus bemerkt in einem seiner Hirtenbriefe (Act. Eccl. Med. p. 1005), daß der Herr dem Gebete den ersten Platz unter den Heilsmitteln, die Er uns im Evangelium empfahl, eingeräumt und gewollt habe, daß die Kirchen Bethäuser genannt würden, um dadurch seine Kirche und Religion von allen anderen Sekten zu unterscheiden: „Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden“ (Mt 21,13). Der Heilige beschließt seine Erinnerungen über das Gebet in diesem Hirtenbriefe mit dem Ausspruch: „Das Gebet ist der Anfang, der Fortgang und die Vollendung aller Tugenden.“ In dem Elende, den Finsternissen und Gefahren, die uns von allen Seiten umgeben, können wir unsere Hoffnungen nur darauf bauen, daß wir unsere Augen zu Gott erheben und Ihn um Hilfe anrufen, um von seiner Barmherzigkeit unser ewiges Heil zu erbitten. „Da wir nicht wissen, was wir tun sollen“, sagte der König Josaphat, „so bleibt uns das allein übrig, daß wir unsere Augen auf dich richten“ (2 Chr 20,12). Ebenso wußte David kein anderes Mittel, den Nachstellungen seiner Feinde zu entgehen, als daß er den Herrn unablässig bat, ihn von ihren Fallstricken zu befreien. „Meine Augen sind immerfort auf den Herrn gerichtet, denn Er wird meine Füße dem Fallstricke entreißen“ (Ps 24,15). Und so ließ er nicht ab, zu beten und den Herrn anzurufen: „Blicke auf mich und erbarme dich meiner, weil ich allein stehe und arm bin“ (Ps 24,16). „Ich habe zu dir gerufen, rette mich, damit ich deine Gebote bewahre“ (Ps 118,146). Wirf einen gnädigen Blick auf mich, o Herr, denn ich vermag nichts ohne dich, und ich habe außer dir keinen Helfer.

Wie könnten wir auch der Gewalt unserer Feinde widerstehen und die Gebote Gottes beobachten, besonders nach der Sünde unseres Stammvaters Adam, durch die wir so schwach und hinfällig geworden sind: wenn wir nicht das Heilsmittel des Gebetes hätten, durch welches wir von Gott Licht und zureichende Kraft erlangen? Es war eine Lästerung, wenn Luther behauptete, es sei nach dem Falle Adams dem Menschen durchaus unmöglich geworden, das Gesetz Gottes zu beobachten. Auch Jansenius stellte den Satz auf, daß die Beobachtung einiger Gesetze selbst den Gerechten bei ihren gegenwärtigen Kräften unmöglich sei, und bis hierher ließe sich dieser Satz noch in einem guten Sinne auslegen; er wurde aber mit Recht von der Kirche verdammt wegen des Nachsatzes, welchen Jansenius beifügte: „Es mangelt auch die Gnade, durch welche sie möglich würden.“ Es ist wahr, sagt der heilige Augustinus, daß der Mensch wegen seiner Schwäche mit seinen gegenwärtigen Kräften und mit der gewöhnlichen Gnade, die allen Menschen gegeben wird, einige Gebote Gottes nicht erfüllen kann; allein er kann sehr wohl durch das Gebet die größere Gnadenhilfe erlangen, deren er bedarf, um diese Gebote zu beobachten: „Gott gebietet keine unmöglichen Dinge, sondern wenn Er gebietet, ermahnt er dich zu tun, was du vermagst, und um das zu bitten, was du nicht vermagst, und steht dir bei, damit du es vermögest“ (De nat. et gratt. c.44. n.50). Diesen berühmten Ausspruch des heiligen Kirchenlehrers hat in der Folge das Konzil von Trient sich angeeignet, und ihn zu einem Glaubenssatze erhoben (Sess. Vl. cap.11). Unmittelbar darauf fügt der Heilige hinzu: „Wir wollen sehen, wie der Mensch durch die Arznei das vermögen wird, was er wegen seiner Krankheit nicht vermag.“ Er will damit sagen, daß wir durch das Gebet die Heilung von unserer Schwäche erlangen, indem Gott uns auf unser Gebet hin die Kraft verleiht, zu tun, was wir nicht vermögen.

Wir können und dürfen nicht glauben, fährt der heilige Augustinus fort, daß Gott uns die Beobachtung des Gesetzes und dann ein unmögliches Gesetz auferlegt habe: wenn daher Gott uns unser Unvermögen, all seine Gebote zu erfüllen, erkennen lasse, ermahne Er uns, die leichten Dinge mit der gewöhnlichen Gnade, die Er uns verleiht, die schwierigen Dinge aber mit der größeren Gnadenhilfe zu vollbringen, die wir mittels des Gebetes erlangen können: „Eben dadurch, daß wir fest und unerschütterlich glauben, Gott könne uns Unmögliches gebieten, werden wir erinnert, was wir in leichten Dingen tun und um was wir in schweren Dingen bitten sollen“ (De nat. et grat. cap. 69. n.83). Aber könnte hier jemand fragen, warum hat uns Gott Dinge geboten, die unsere Kräfte übersteigen? Eben deshalb, antwortet der Heilige, damit wir darauf bedacht seien, durch das Gebet die Kraft zu erlangen, das zu tun, was wir nicht vermögen. „Er gebietet einiges, was wir nicht vermögen, damit wir erkennen, um was wir Ihn bitten sollen“ (cap.16. n.3). An einem anderen Orte sagt er: „Das Gesetz ist gegeben, damit die Gnade gesucht werde, die Gnade aber wird gegeben, damit das Gesetz erfüllt werde“ (In Psalm 100). Wir können das Gesetz ohne die Gnade nicht beobachten, und deshalb hat Gott uns das Gesetz gegeben, damit wir Ihn immerfort demütig und inständig bitten, Er möge uns die Gnade verleihen, es zu beobachten. Und wieder an einem anderen Ort sagt er: „Das Gesetz ist gut, wenn wir es auf die rechte Weise benützen: worin besteht aber die rechte Benützung des Gesetzes?“ Und er antwortet darauf. „Sie besteht darin, daß wir durch das Gesetz unsere Krankheit erkennen und bei Gott Hilfe suchen, um davon geheilt zu werden“ (Serm. de verb. apost. c. 3) Der Heilige ermahnt uns also, das Gesetz zu benützen, und wozu? Um durch das Gesetz, das unsere Kräfte übersteigt, unser Unvermögen, es zu erfüllen, zu erkennen, damit wir uns sodann durch das Gebet den göttlichen Beistand erbitten, der uns von unserer Schwäche heilt.

Dasselbe sagt auch der heilige Bernhard: „Wer sind wir denn, und welche Stärke besitzen wir, daß wir so vielen Versuchungen widerstehen könnten? Dies war es ohne Zweifel, was Gott wollte: daß wir in tiefer Demut zu seiner Barmherzigkeit unsere Zuflucht nehmen, wenn wir sehen, wie schwach wir sind, und wie wir sonst nirgends eine Hilfe haben“ (Serrno 5 de quadrag.). Gott weiß, wie nützlich es uns ist, daß wir genötigt sind, zu beten, um die Demut zu bewahren und das Vertrauen zu erwecken; und darum läßt Er es zu, daß wir von Feinden angefallen werden, die wir nicht zu besiegen vermögen, damit wir uns durch das Gebet von seiner Barmherzigkeit die Kraft zum Widerstande erwirken. Insbesondere müssen wir uns wohl einprägen, daß niemand den Versuchungen gegen die Reinheit widerstehen kann, wenn er nicht sogleich Gott um Hilfe anruft. Der Kampf mit dieser Versuchung ist deshalb so furchtbar, weil sie uns beinahe allen Lichtes beraubt und macht, daß wir unsere Betrachtungen und großen Vorsätze vergessen, die Wahrheiten des Glaubens nicht achten, ja fast die göttlichen Strafgerichte nicht fürchten; denn diese Versuchung ist im Bunde mit unserer verderbten Natur, die uns mit aller Gewalt zur sinnlichen Lust antreibt. Wer alsdann seine Zuflucht nicht zu Gott nimmt, ist verloren. Das einzige Mittel, sagt der heilige Gregor von Nyssa, sich gegen die Versuchungen zu verteidigen, ist das Gebet. „Die Schutzwehr der Keuschheit ist das Gebet.“ Dasselbe sagte schon vor ihm der Weise: „Da ich wußte, daß ich nicht enthaltsam sein könnte, wenn es mir nicht von Gott gegeben wird ... so trat ich vor den Herrn und bat ihn“ (Weish 8,21). Die Keuschheit ist eine Tugend, die wir zu bewahren nicht imstande sind, wenn uns Gott nicht die Kraft hierzu verleiht, und Er verleiht diese Kraft nur demjenigen, der Ihn darum bittet. Wer aber bittet, wird sie ganz gewiß erhalten.

Deshalb lehrt der heilige Thomas, daß wir nicht sagen dürfen, das Gebot der Keuschheit oder ein anderes Gebot sei uns zu beobachten unmöglich, denn wenn wir es auch nicht mit unseren Kräften zu erfüllen imstande sind, vermögen wir es doch mit dem göttlichen Beistand. „Was uns mit dem göttlichen Beistand möglich ist, kann nicht schlechthin unmöglich genannt werden“ (III, 109,4, ad 2). Und damit lehrt der Heilige das Gegenteil von dem, was Jansenius behauptete. Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, es scheine doch immer eine Ungerechtigkeit zu sein, von einem Lahmen zu verlangen, daß er gerade gehe. Nein, sagt der heilige Augustinus, es ist dies keine Ungerechtigkeit, wenn demselben das Mittel an die Hand gegeben ist, von seinen Gebrechen geheilt zu werden; denn wenn er dann noch fortfährt, gekrümmt einherzugehen, so ist es seine Schuld. „Mit allem Rechte wird dem Menschen geboten, gerade einherzugehen, und wenn er erkennt, daß er nicht dazu imstande sei, soll er die Arznei suchen, durch die er von der Lahmheit geheilt wird, in welche ihn die Sünde versetzt hat“ (De perf, cap.3).

Derselbe heilige Lehrer faßt alles in Kürze zusammen, wenn er sagt, daß unser Lebenswandel von unserem Gebet abhängt: „Recht zu leben weiß, wer recht zu beten weiß“ (Hom. 43). Ebenso sagte der heilige Franziskus von Assisi, daß von einer Seele, die das Gebet vernachlässigt, niemals die Früchte eines frommen Wandels zu erwarten seien. Mit Unrecht entschuldigen sich daher jene Sünder, welche sagen, sie hätten die Kraft nicht, den Versuchungen zu widerstehen. Wenn ihr die Kraft nicht habt, erwidert der heilige Jakobus, warum begehrt ihr sie nicht? Ihr habt sie nicht, weil ihr sie von Gott nicht verlangt: „Ihr erhaltet nicht, weil ihr nicht bittet“ (Jak 4,2). Es ist gewiß, daß wir zu schwach sind, um den Angriffen unserer Feinde zu widerstehen; es ist aber ebenso gewiß, daß Gott getreu ist und es nicht zuläßt, daß wir über unsere Kräfte versucht werden. Der Apostel bezeugt: „Gott ist getreu, Er wird nicht zulassen, daß ihr über eure Kräfte versucht werdet, sondern mit der Versuchung einen guten Ausgang geben, damit ihr bestehen könnt“ (1 Kor 10,13). Primasius fügt zur Erklärung dieser Worte hinzu: „Gott wird durch den Schutz seiner Gnade einen solchen Ausgang herbeiführen, daß ihr die Prüfung bestehen könnt.“ Wir sind schwach, aber Gott ist stark; und wenn wir ihn um Hilfe anrufen, teilt Er uns seine Stärke mit, und wir vermögen dann alles und können mit demselben Apostel sprechen: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt“ (Phil 4,13). Deshalb hat also derjenige keine Entschuldigung, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, der fällt, weil er es unterließ, zu beten; denn hätte er gebetet, so wäre er von seinen Feinden nicht überwunden worden. „Auch kann derjenige nicht entschuldigt werden, der seinen Feind nicht überwinden wollte, weil er vom Gebet abließ“ (Serm. de Moys.).

Es kann hier die Frage aufgeworfen werden, ob es notwendig sei, zu der Fürbitte der Heiligen seine Zuflucht zu nehmen, um Gnaden von Gott zu erlangen. Daß es erlaubt und nützlich sei, die Heiligen um ihre Fürsprache anzurufen, damit sie uns durch die Verdienste Jesu Christi das erwirken, was wir wegen unserer Sünden zu erlangen nicht würdig sind, unterliegt keinem Zweifel, denn es ist dies die Lehre der Kirche, wie sie das Konzil von Trient erklärt hat: „Es ist gut und nützlich, sie demütig anzurufen und zu ihrer Hilfe und Fürbitte die Zuflucht zu nehmen, um von Gott durch seinen Sohn Jesus Christus Gnaden und Wohltaten zu erlangen“ (Sess. 25. in decr. de invoc. Sanct.). Calvin, der unselige Irrlehrer, hat die Anrufung der Heiligen verworfen; aber wider alle Vernunft. Es ist unstreitig erlaubt und nützlich, noch lebende Heilige um ihren Beistand anzurufen und sie zu bitten, daß sie uns mit ihrem Gebete unterstützen mögen, wie der Prophet Baruch tat: „Betet auch für uns zum Herrn, unserem Gott“ (Bar 1,13); und der heilige Paulus: „Brüder, betet für uns“ (1 Thess 5,25). Gott selbst wollte, daß die Freunde des Job sich den Gebeten seines treuen Knechtes empfehlen sollten, damit Er ihnen um seiner Verdienste willen gnädig sei: „Gehet hin zu meinem Knechte Job. ... Mein Knecht Job soll für euch beten; sein Angesicht will ich gnädig ansehen“ (Job 42,8). Wenn es aber erlaubt ist, sich den Gebeten Lebender anzuempfehlen, warum sollte es nicht erlaubt sein, die Heiligen im Himmel anzurufen, die im Himmel Gott noch viel näher stehen? Die Ehre, die Gott gebührt, wird dadurch nicht beeinträchtigt, sondern vielmehr verdoppelt, gleichwie wir auf Erden den König nicht nur in seiner Person, sondern auch in seinen Dienern ehren. Deshalb sagte der heilige Thomas, es sei gut, mehrere Heilige anzurufen, „weil man manchmal durch die Fürbitte mehrerer erlangt, was man durch die Fürbitte eines einzigen nicht erlangt hätte“ (In 4. sent. dist. 45. q. 3. art. 2. ad 2). Dagegen könnte jemand einwenden: „Welchen Nutzen soll es haben, die Heiligen anzurufen, damit sie für uns beten, da sie ohnehin für alle beten, die es verdienen?“ Hierauf antwortet derselbe Heilige: Mancher ist nicht würdig, daß die Heiligen für ihn bitten: „er wird es aber eben dadurch, daß er mit Andacht zu den Heiligen seine Zuflucht nimmt“ (ibid. ad 5).

Eine weitere Frage ist, ob man sich mit Nutzen und Erfolg in das Gebet der leidenden Seelen im Fegefeuer empfehlen könne. Einige behaupten, daß die Armen Seelen nicht für uns zu beten vermögen, und stützen sich auf die Autorität des heiligen Thomas, welcher sagt, daß diese Seelen um eine Stufe niedriger stehen als wir, weil das Fegefeuer ein Ort der Strafe und der Läuterung sei: „daß sie sich daher nicht in dem Zustande des Gebetes befinden, sondern vielmehr nötig haben, daß für sie gebetet werde“ (II II, 83,11, ad 3). Viele andere Theologen aber, wie Bellarmin, Sylvius, der Kardinal Gotti usw. (Bellarm. lib. 2 de purg. c. 15, Sylvius in q.7 1. Suffr. Art. 6, Gotti t. 3. Tr. 14. q. 4, §3 in fin, Lessius dejust. lib. 2. c. 37. dub. 5. cum Syl. Medina etc.) behaupten mit großer Wahrscheinlichkeit, man müsse den frommen Glauben festhalten, daß Gott ihnen unsere Gebete offenbare, damit diese heiligen Seelen für uns beten, gleichwie wir für sie beten, und so die schöne Gemeinschaft der Liebe erhalten werde. Dies widerspricht nicht, wie Sylvius und Gotti bemerken, dem eben angeführten Ausspruch des heiligen Thomas, daß die leidenden Seelen sich nicht im Zustand des Gebetes befinden, denn daraus folgt keineswegs, daß sie gar nicht beten können. Es ist wahr, daß der Zustand dieser heiligen Seelen kein Zustand des Gebetes ist, weil sie sich, wie der englische Lehrer sagt, im Fegefeuer befinden, um zu leiden, und daher um eine Stufe niedriger sind als wir und vielmehr unserer Gebete bedürfen: dessen ungeachtet aber können sie in diesem Zustande sehr wohl beten, weil sie von Gott geliebte Seelen sind. Wenn ein Vater seinen Sohn, den er zärtlich liebt, für eine gewisse Zeit in einen Kerker eingeschlossen hat, um ihn für einen begangenen Fehler zu bestrafen, so ist dieser Sohn allerdings nicht in dem Zustande, für sich etwas zu erbitten: aber warum sollte er nicht für andere bitten und nicht hoffen können, erhört zu werden, da er weiß, wie sehr sein Vater ihn liebt? Ebenso verhält es sich mit den Armen Seelen im Fegefeuer: Sie sind von Gott geliebt und in seiner Gnade befestigt; es steht ihnen folglich nichts entgegen, was sie hindern könnte, für uns zu beten. Die Kirche pflegt sie nicht anzurufen und um ihre Fürsprache zu bitten, weil sie es nach der gewöhnlichen Ordnung nicht inne werden, wenn wir für sie beten. Es ist jedoch ein frommer Glaube, wie oben gesagt wurde, daß Gott ihnen unsere Gebete offenbare; dann unterlassen diese heiligen, von Liebe erfüllten Seelen gewiß nicht, für uns zu beten. Wenn die heilige Katharina von Bologna eine besondere Gnade zu erhalten wünschte, nahm sie ihre Zuflucht zu den Armen Seelen, und ward sogleich erhört. Ja, sie bezeugt, daß sie auf diese Weise viele Gnaden erlangt habe, die sie durch die Fürbitte der Heiligen nicht erlangen konnte.

Der Leser möge mir hier eine kurze Unterbrechung zum Besten dieser heiligen Seelen gestatten. Wenn wir wollen, daß sie uns mit ihren Gebeten beistehen, so ist es billig, daß auch wir ihnen durch unsere Gebete und guten Werke zu Hilfe kommen. Ich sagte: „Es ist billig“; allein ich sollte vielmehr sagen, daß wir hierzu verpflichtet sind; denn die christliche Liebe fordert, daß wir unserem Nächsten zu Hilfe kommen, wenn er in Not ist, unseres Beistandes bedarf und wir ihm ohne große Beschwerden beistehen können. Nun ist es aber gewiß, daß auch die Seelen im Fegefeuer zu unseren Nächsten gehören, denn wenn sie auch nicht mehr hier auf Erden leben, so sind sie doch aus der Gemeinschaft der Heiligen nicht ausgetreten. „Die Seelen der frommen Verstorbenen werden von der Kirche nicht getrennt“, sagt der heilige Augustinus (De civitate Dei, lib.20, c.9). Noch bestimmter erklärt dies der heilige Thomas, da er sagt, daß die Liebe, die wir den Verstorbenen schuldig sind, die in der Gnade Gottes aus diesem Leben geschieden sind, eine Ausdehnung der Liebe sei, die wir unseren lebenden Nächsten zu erweisen verpflichtet sind: „Die Liebe ist das Band, welches die Glieder der Kirche miteinander vereinigt, sie erstreckt sich daher nicht nur auf die Lebenden, sondern auch auf die Verstorbenen, die in der Liebe verschieden sind.“ Daraus folgt, daß wir diesen heiligen Seelen, als unseren Nächsten, nach Kräften zu Hilfe kommen sollen. Und da ihre Not noch größer ist als die der Lebenden, so scheint unsere Pflicht ihnen beizustehen, in dieser Beziehung noch größer zu sein.

Von welcher Art ist aber die Not, in welcher sich diese heiligen, der göttlichen Gerechtigkeit verschuldeten Seelen befinden? Hierauf ist vorerst zu erwidern: es ist gewiß, daß ihre Leiden unermeßlich sind. „Dieses Feuer wird ihnen eine größere Pein sein als irgendeine Pein, die der Mensch hier auf Erden erleiden kann“, sagt der heilige Augustinus (In Psalm 37). Dasselbe sagt auch der heilige Thomas und fügt noch hinzu: „In ein und demselben Feuer wird der Verworfene gepeinigt und der Auserwählte geläutert“ (In 4. sent., dist.21). Dies ist von der Pein der Sinne gesagt, aber noch viel größer ist der Schmerz, welchen die Beraubung der Anschauung Gottes seinen heiligen Bräuten verursacht. Da sie Gott mit einer glühenden, nicht bloß natürlichen, sondern übernatürlichen Liebe lieben, so fühlen sie sich mit einer unwiderstehlichen Gewalt zu Ihm hingezogen und angetrieben, sich mit ihrem höchsten Gute zu vereinigen; da sie aber zu gleicher Zeit erkennen, daß ihre Verschuldungen sie daran verhindern, so ist die Pein, die sie über diese Verhinderung empfinden, so groß, daß sie in jedem Augenblicke vor Schmerz sterben würden, wenn sie zu sterben fähig wären. „Wenn das Feuer der Hölle auch tausendfach gesteigert würde“, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, „so würde es ihnen doch keinen solchen Schmerz verursachen wie die Beraubung der Anschauung Gottes.“ Diese heiligen Bräute Gottes wären daher bereit, eher jede andere Pein zu erdulden, als auch nur um einen Augenblick länger der ersehnten Vereinigung mit Gott beraubt zu sein; und doch sind die Peinen des Fegefeuers von der Art, daß sie, wie der heilige Thomas sagt, alle Peinen und Leiden dieses Lebens übersteigen (In 4. sent. dist. 2 1. q. 1. art. 1. q.3). Dionysius der Karthäuser erzählt, daß ein Verstorbener, der durch das Gebet des heiligen Hieronymus wieder zum Leben erweckt wurde, dem heiligen Cyrill von Jerusalem gesagt habe, alle Schmerzen dieses Lebens seien vielmehr Labsal und Erholung, wenn man sie mit der geringsten Pein des Fegefeuers vergleiche (De noviss. L. 4. P. 3. art. 19). Und er fügte noch hinzu: Ein Mensch, der diese Peinen erfahren hätte, wäre bereit, lieber alle Schmerzen zu leiden, welche die Menschen hier auf Erden erlitten haben und bis zum jüngsten Tage erleiden werden, als auch nur einen Tag die geringste Pein des Fegefeuers erdulden zu müssen. Deshalb sagt auch der heilige Cyrill, daß diese Peinen, was die Größe des Schmerzes betrifft, dieselben seien wie die der Hölle, und sich nur dadurch unterscheiden, daß sie nicht ewig dauern (In ep. ad S. August.). Einerseits sind also die Leiden dieser Armen Seelen unermeßlich, andererseits aber können sie sich selbst keine Hilfe verschaffen, weil sie, wie es im Buch Job heißt „in Ketten liegen und mit den Stricken der Armut gebunden sind“ (Job 36,8). Sie sind zwar schon auserwählt und bestimmt, das Reich der ewigen Herrlichkeit zu besitzen und in diesem Reiche Königinnen zu sein, allein, die Besitznahme wird ihnen so lange aufgeschoben, bis sie ihre Läuterung vollendet haben. Solange sie der göttlichen Gerechtigkeit nicht vollständige Genugtuung geleistet haben, können sie sich von den Ketten nicht befreien, mit welchen sie gebunden sind, und sich ihre Leiden nicht erleichtern (wenigstens nicht genügend, wenn wir jenen Theologen glauben wollen, welche behaupten, daß sie sich durch ihre Gebete einige Erleichterung verschaffen können). Ein Bruder aus dem Zisterzienserorden erschien einst nach seinem Tode dem Sakristan des Klosters und sprach zu ihm: „Ich bitte euch, kommt mir mit euren Gebeten zu Hilfe, denn ich bin nicht imstande, durch mich selbst etwas zu erlangen“ (Hist. Cist.). Die Seelen des Fegefeuers befinden sich in einer solchen äußersten Armut, sagt der heilige Bonaventura, daß sie nicht die geringste Genugtuung zu leisten vermögen. „Die Armut verhindert die Bezahlung ihrer Schulden“ (Serm. de mort.).

Da es aber andererseits gewiß, ja ein Glaubenssatz ist, daß wir diesen Armen Seelen durch unsere Fürbitten, vorzüglich durch die von der Kirche besonders empfohlenen und in Übung gebrachten Gebete, zu Hilfe kommen können, so weiß ich nicht, wie diejenigen von einer Verschuldung freigesprochen werden können, die es vernachlässigen, ihnen wenigstens durch das Gebet einige Hilfe zu bringen. Wenn uns die Pflicht der christlichen Liebe hierzu nicht bewegt, sollte es doch der Gedanke, daß Jesus Christus ein großes Wohlgefallen daran hat, wenn wir uns bemühen, seine geliebten Bräute aus der Gefangenschaft zu erlösen, damit sie sich im Himmel mit Ihm vereinigen. Ein Beweggrund sollen uns ferner die großen Verdienste sein, die wir uns durch dieses Liebeswerk erwerben können. Diese heiligen Seelen sind sehr dankbar, sie erkennen die Größe der Wohltat, die wir ihnen erweisen, wenn wir ihnen ihre Leiden erleichtern und durch unsere Gebete ihre Erlösung beschleunigen; sie werden daher, wenn sie in die ewige Herrlichkeit eingegangen sind, gewiß nicht unterlassen, für uns zu beten. Und wenn der Herr den Barmherzigen Barmherzigkeit verheißt: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7), so hat derjenige allen Grund, auf sein ewiges Heil zu hoffen, der sich bemüht, diesen heiligen, so sehr liebenden und von Gott geliebten Seelen beizustehen.

Nachdem Jonathan einen Sieg über die Feinde erfochten und dadurch sein Volk errettet hatte, wurde er von seinem Vater Saul zum Tode verurteilt, weil er gegen das erlassene Verbot ein wenig Honig genossen hatte; allein das Volk trat vor den König und sprach: „Wie, Jonathan soll sterben, der dieses große Heil in Israel gewirkt hat?“ (1 Kön 14,45). Ähnliches können auch wir hoffen, wenn wir durch unsere Gebete erlangen, daß eine Seele aus dem Fegefeuer erlöst und in den Himmel aufgenommen wird. Diese Seele wird dann vor den Herrn hintreten und sprechen: „Herr, laß nicht zu, daß derjenige verloren gehe, der mich von meinem Leiden befreit und meine Banden gelöst hat.“ Und wenn Saul auf die Fürbitten des Volkes dem Jonathan das Leben schenkte, so wird auch der Herr auf die Fürbitte einer Seele, die schon zu seinen heiligen Bräuten gehört, das ewige Heil demjenigen gewiß nicht versagen, dem sie ihre Befreiung verdankt. Auch können wir, wie der heilige Augustinus sagt, mit Zuversicht hoffen, daß Gott allen, die in diesem Leben mit größerer Liebe der Armen Seelen eingedenk waren, in dem anderen Leben, wenn sie sich selbst im Fegefeuer befinden, größere Hilfe von anderen zukommen lassen wird. Ich will nur noch die praktische Bemerkung hinzufügen, daß es der leidenden Seele eine große Hilfe bringt, wenn man für sie die heilige Messe anhört und sie in derselben Gott anempfiehlt durch die Verdienste des bitteren Leidens Jesu Christi, und das nachfolgende oder ein ähnliches Gebet spricht: „Ewiger Vater, ich bringe Dir dieses Opfer des Leibes und Blutes Christi dar, zugleich mit allen Schmerzen, die er in seinem Leben und in seinem Tode für uns erduldet hat, und bitte Dich durch die Verdienste seines Leidens, daß Du Dich aller leidenden Seelen im Fegefeuer erbarmen wollest, insbesondere aber der Seele N.N..“ Wenn man dann auch noch alle Sterbenden der göttlichen Barmherzigkeit anempfiehlt, wird man ein doppeltes, sehr verdienstliches Liebeswerk üben.

Alles dies bezieht sich auf die leidenden Seelen im Fegefeuer und auf die Frage, ob diese Seelen für uns beten und wir mit Nutzen und Erfolg ihren Gebeten uns anempfehlen können. Was aber die Heiligen betrifft, so können diese Zweifel nicht aufgeworfen werden, weil es ganz gewiß und außer allem Streite ist, daß es sehr nützlich und heilsam sei, die Heiligen, die als solche von der Kirche anerkannt sind und die Anschauung Gottes bereits genießen, um ihre Fürsprache anzurufen. Die Kirche kann bei der Heiligsprechung der Diener Gottes nicht irren, und es ist niemandem erlaubt, das Gegenteil zu behaupten. Nach einigen, wie dem heiligen Bonaventura, dem heiligen Kardinal Bellarmin u.a. wäre diese Behauptung ketzerisch, nach anderen, wie Suarez, Azorius, Gotti u.a. wenigstens ein der Ketzerei sehr nahekommender Irrtum, weil die Päpste, wie der heilige Thomas lehrt (Quodlib. 9, art. 16, ad 1), bei der Heiligsprechung der Diener Gottes vorzugsweise von den untrüglichen Eingebungen des Heiligen Geistes geleitet werden.

Ich kehre nun zu der oben gestellten Frage zurück: ob wir verpflichtet seien, die Heiligen um ihre Fürbitte anzurufen. Es ist nicht meine Absicht, in eine Entscheidung dieser Frage einzugehen; ich kann jedoch nicht umhin, die Lehre des heiligen Thomas über diesen Gegenstand auseinanderzusetzen. An mehreren bereits angeführten Orten, besonders aber in dem Buche der Sentenzen, setzt der englische Lehrer als gewiß voraus, daß alle Menschen verpflichtet seien zu beten, weil sie auf keine andere Weise die zur Seligkeit notwendigen Gnaden von Gott erlangen können: „Zum Gebete ist jeder schon deshalb verpflichtet, weil jeder verpflichtet ist, sich die geistlichen Güter zu verschaffen, die nur von Gott gegeben werden, und die wir uns nur dadurch verschaffen können, daß wir Gott darum bitten“ (In 4. sent. dist. 15. cap.4. art. 1. sol. ad q.3). An einem anderen Orte dieses Buches wirft er dann eben die Frage auf, um die es sich hier handelt, nämlich: „Ob wir die Heiligen um ihre Fürsprache anrufen müssen?“ Er antwortet hierauf folgendermaßen, und zum besseren Verständnisse führe ich den Text vollständig an: „Die von Gott eingesetzte Ordnung ist nach dem heiligen Dionysius, daß alle Dinge durch die letzten Vermittlungen zu Gott zurückgeführt werden. Da nun aber die Heiligen, die schon im himmlischen Vaterlande angelangt sind, Gott am nächsten stehen, so erfordert es dieses Gesetz der göttlichen Weltordnung, daß wir, die wir noch in diesem sterblichen Leibe pilgern und von dem Herrn entfernt sind, durch die Vermittlung der Heiligen zu ihm zurückgeführt werden; dies geschieht, wenn Gott die Wirkungen seiner Güte durch sie über uns ausgießt. Unsere Rückkehr zu Gott muß aber dem Gange seiner Gnadenerweise entsprechen: ,gleichwie also die Wohltaten Gottes mittels der Fürbitten der Heiligen uns zukommen, so müssen wir auf solche Weise zu Gott zurückgeführt werden, daß wir seine Wohltaten gleichfalls mittels der Heiligen empfangen. Und dies ist der Grund, warum wir die Heiligen zu unseren Fürsprechern und gleichsam zu unseren Vermittlern vor Gott machen, wenn wir sie bitten, daß sie für uns beten mögen.“ In diesem Texte sind besonders die Worte: „Dieses Gesetz der göttlichen Weltordnung erfordert“ und noch mehr die Schlußworte zu bemerken: „so müssen wir auf solche Weise zu Gott zurückgeführt werden, daß wir seine Wohltaten gleichfalls mittels der Heiligen empfangen.“ Nach dem heiligen Thomas fordert also die von Gott eingesetzte Weltordnung, daß wir Sterbliche durch die Heiligen zur ewigen Seligkeit gelangen, indem wir durch ihre Vermittlung die zu unserem Heile nötigen Gnadenhilfen empfangen. Der englische Lehrer macht sich darin selbst den Einwurf, daß es überflüssig scheine, zu den Heiligen unsere Zuflucht zu nehmen, da Gott unendlich barmherziger und geneigter sei, uns zu erhören, als die Heiligen. Er antwortet aber darauf, daß der Herr dies nicht wegen eines Mangels in seinen göttlichen Vollkommenheiten so festgesetzt habe, sondern damit die von ihm eingeführte Ordnung, durch sekundäre Ursachen zu wirken, bewahrt werde: „Nicht weil es Ihm an Barmherzigkeit gebricht, sondern damit die benannte Ordnung erhalten werde.“

Auf diese Aussprüche und die Autorität des heiligen Thomas gestützt, behauptet der Fortsetzer des Tournely mit Sylvius, daß man zwar nur zu Gott, als dem alleinigen Urheber aller Gnaden, beten müsse, daß wir aber dessenungeachtet verpflichtet sind, auch zu der Fürsprache der Heiligen unsere Zuflucht zu nehmen, um die Heilsordnung zu beachten, die Gott für uns festgesetzt hat: „Weil wir durch das natürliche Gesetz verpflichtet sind, die von Gott eingesetzte Ordnung zu beobachten, und Gott angeordnet hat, daß die niedriger Stehenden ihr Heil erlangen sollen, indem sie die höher Stehenden um ihren Beistand bitten.“

Wenn dies von den Heiligen gilt, so muß es noch viel mehr von der Fürbitte der allerseligsten Jungfrau und Mutter unseres Herrn gelten, deren Bitten vor Gott ohne Zweifel einen höheren Wert und eine größere Kraft haben als die vereinten Bitten aller Heiligen und seligen Geister des Himmels. Denn, sagt der heilige Thomas, die Heiligen können nach dem Maße der Verdienste, durch welche ihnen die Gnade zuteil wurde, viele andere retten; Jesus Christus aber und seine heiligste Mutter haben eine solche Fülle von Gnaden verdient, daß sie alle Menschen retten können: „Es ist etwas Großes in jedem Heiligen, wenn er so viel Gnade hat, als zum Heile vieler hinreicht; wenn er aber so viel hätte, als zum Heile aller Menschen hinreicht, so wäre dies das Höchste, und dies ist eben in Christus und in der allerseligsten Jungfrau“ (Epist. 8). Und der heilige Bernhard sagt von Maria: „Durch dich haben wir Zutritt zu dem Sohne, die du die Gnade gefunden hast, Mutter des Heils, damit durch dich uns aufnehme, der uns durch dich gegeben wurde“ (Serm. in dom. Infra Assumpt.). Gleichwie wir, sagt der Heilige mit diesen Worten, den Zutritt zum Vater nur durch den Sohn haben, welcher der Mittler der Gerechtigkeit ist, so haben wir auch den Zutritt zum Sohne nur durch seine Mutter, die eine Mittlerin der Gnade ist und uns durch ihre Fürbitte die Güter erwirkt, die uns Jesus Christus verdient hat. In demselben Sinne sagt der Heilige an einem anderen Orte, daß Maria von Gott eine zweifache Fülle von Gnaden erhalten habe (Serm. de aquaeduct.). Die erste ist die Menschwerdung des ewigen Wortes in ihrem allerreinsten und heiligsten Schoße, und die zweite ist jene Fülle von Gnaden, die wir durch ihre Fürbitte von Gott empfangen. Deshalb fügt der Heilige hinzu: „Die Fülle alles Guten hat Gott in Maria gelegt, damit wir, wenn irgend eine Hoffnung, irgend eine Gnade, irgend ein Heil in uns ist, erkennen mögen, daß alles uns von derjenigen zufließe, die aufsteigt, von Wonne überfließend. Sie ist ein Garten der Lust, damit sie ihre Wohlgerüche, das sind die himmlischen Gnadengaben, nach allen Seiten hin ausströme.“ So läßt uns Gott alles, was wir Gutes an uns haben können, durch die Vermittlung der allerseligsten Jungfrau zukommen. Und warum dies? Weil, antwortet der heilige Bernhard, Gott es also gewollt hat: „So war es der Wille desjenigen, der wollte, daß wir alles, was wir haben, durch Maria haben sollen.“ Ein näherer Grund aber ergibt sich aus einer Stelle des heiligen Augustinus, worin er sagt, daß Maria mit Recht unsere Mutter genannt werde, weil sie mitgewirkt hat zu der Wiedergeburt der Gläubigen, deren Haupt Jesus Christus ist und die seine Glieder sind: „Sie ist in Wahrheit die Mutter seiner Glieder, weil sie durch die Liebe mitgewirkt hat, daß die Gläubigen, welche die Glieder des Hauptes Christus sind, in der Kirche wiedergeboren werden“ (L, 3 de symb. ad cat. c. 4). Gleichwie also Maria durch ihre Liebe zur geistlichen Geburt der Gläubigen mitgewirkt hat, so will Gott auch, daß sie durch ihre Fürbitte dazu mitwirke, daß dieselben das Leben der Gnade auf dieser Welt bewahren und in der anderen Welt das Leben der Glorie erlangen. Und deshalb wollte die heilige Kirche, daß wir die allerseligste Jungfrau mit solchen Namen und Titeln anrufen und begrüßen, wodurch dies auf das Bestimmteste bezeichnet wird: „Unser Leben, unsere Wonne, unsere Hoffnung sei gegrüßt.“

In demselben Sinne mahnt uns der heilige Bernhard, allezeit unsere Zuflucht zur Gottesmutter zu nehmen, weil ihre Bitten allezeit von ihrem Sohne erhört werden. „Zu Maria nimm deine Zuflucht, ich sage dir mit aller Sicherheit, daß der Sohn ganz gewiß die Mutter erhören wird“ (Serm. de aquaeduct.). Und dann fügt er hinzu: „Meine Söhne, Maria ist die Leiter der Sünder, sie ist es, auf welcher meine größte Zuversicht beruht, sie ist der ganze Grund meiner Hoffnung.“ Er nennt sie eine Leiter der Sünder, denn gleichwie man bei einer Leiter nicht auf die dritte Sprosse gelangen kann, wenn man nicht zuvor den Fuß auf die zweite gesetzt hat, und ebenso nicht auf die zweite, ohne vorher die erste betreten zu haben: ebenso gelangt man zu Gott nur durch Jesus Christus, und zu Jesus Christus nur durch Maria. Der Heilige sagt ferner, daß auf Maria seine größte Zuversicht beruhe und daß sie der Grund aller seiner Hoffnung sei, weil nach seiner Voraussetzung Gott will, daß alle Gnaden, die er uns verleiht, durch die Hände der heiligsten Jungfrau gehen sollen. Er schließt endlich mit der Ermahnung, uns alle Gnaden, die wir wünschen, durch Maria zu erbitten, weil sie allezeit erlangt, was sie begehrt, und ihre Bitten niemals zurückgewiesen werden: „Suchen wir die Gnade, und suchen wir sie durch Maria, denn was sie sucht, das findet sie und kann nicht getäuscht werden.“ Auf dieselbe Weise wie der heilige Bernhard sprechen sich auch viele andere Heilige aus. Der heilige Ephrem: „Alle Zuversicht, die wir haben, strömt uns von dir, o allerreinste Jungfrau!“ Der heilige Ildefons: „Alles Gute, das die göttliche Majestät beschlossen hat, uns zu erweisen, hat sie deinen Händen zu übergeben beschlossen, denn dir sind alle Schätze und Kleinode der Gnade anvertraut.“ Der heilige Germanus: „Wenn du uns verlassen würdest, was würde aus uns werden, o Leben der Gläubigen?“ Der heilige Petrus Damiani: „In deinen Händen sind alle Schätze der göttlichen Erbarmungen.“ Der heilige Antonin: „Wer ohne sie betet, der versucht zu fliegen ohne Flügel.“ Der heilige Bernardin von Siena: „Du bist die Ausspenderin aller Gnaden, unser Heil liegt in deiner Hand.“ Und an einem anderen Orte behauptet er nicht nur, daß uns alle Gnaden durch Maria zukommen, sondern auch, daß die allerseligste Jungfrau von dem Augenblicke an, wo sie die Mutter Gottes ward, eine gewisse Gewalt über alle Gnaden, welche uns verliehen werden, erlangt habe: „Alle belebenden Gnaden werden von unserem Haupte Christus durch die Jungfrau in seinen mystischen Leib ausgegossen. Von jenem Augenblicke an, wo die jungfräuliche Mutter das göttliche Wort in ihrem allerreinsten Schoße empfing, hat sie, wenn man so sagen darf, eine gewisse Gewalt über alle Gaben, die in der Zeit von dem Heiligen Geiste ausgehen, erlangt, so daß kein Geschöpf irgendeine Gnade von Gott anders, als durch die Ausspendung dieser liebreichen Mutter erhalten hat.“ Und er macht sodann den Schluß: „Alle Gaben, Tugenden und Gnaden also werden durch die Hände der Jungfrau an diejenigen verteilt, welchen sie dieselben zukommen lassen will.“ Dasselbe sagt auch der heilige Bonaventura: „Die ganze göttliche Natur war in dem Schoße der Jungfrau, und deshalb scheue ich mich nicht, zu behaupten, daß diese Jungfrau, aus deren Schoße, wie aus einem Meere der Gottheit, alle Gnadenströme sich ergießen, eine gewisse Gewalt über alle Gnadenerweisungen besitze.“ Auf die Autorität dieser Heiligen gestützt, haben dann viele Theologen mit ebenso großem Rechte als frommem Eifer den Satz verteidigt, daß Gott uns keine Gnade anders als durch die Fürsprache der heiligsten Jungfrau verleihe, wie z.B. Vega, Mendoza, Paciucchelli, Segneri, Poiret, Crasset und viele andere mit dem gelehrten P. Natalis Alexander, welcher sagt: „Gott will, daß wir von Ihm erwarten, Er werde uns durch die mächtige Fürbitte der jungfräulichen Mutter alle Güter verleihen, wenn wir sie anrufen, wie es sich gebührt“ (Epist. 76. in calce T. 4. moral.). Er beruft sich dabei auf den schon oben angeführten Ausspruch des heiligen Bernhard: „So war es der Wille desjenigen, der wollte, daß wir alles, was wir haben, durch Maria haben sollen.“ Dasselbe sagt auch P. Contenson, welcher zu den Worten, welche Jesus am Kreuze zu Johannes sprach: „Siehe, deine Mutter“ Folgendes hinzufügt: „Es ist, als ob der Herr sagte: 'Niemand wird teilhaben an meinem vergossenen Blute ohne die Vermittlung meiner Mutter. Meine Wunden sind die Quellen aller Gnaden, aber diese Quellen werden nur dahin fließen, wohin sie von Maria geleitet werden. Johannes, mein Jünger, ich werde dich in dem Maße lieben, in welchem du Maria lieben wirst‘“ (Theol. mentis et cordis, T. 1. lib. 10. d. 4. c. 1). Übrigens bedarf es keines Beweises, daß Gott, der die Anrufung der Heiligen wohlgefällig aufnimmt, ein noch viel größeres Wohlgefallen hat, wenn wir zu der Fürsprache der Gottesmutter unsere Zuflucht nahmen, damit ihr Verdienst die Mängel unserer Unwürdigkeit ersetze, wie der heilige Anselm sagt: „Damit die Würdigkeit des Fürsprechers die Dürftigkeit des Bittenden ersetze. Wenn wir daher die heilige Jungfrau anrufen, geschieht dies nicht, weil wir in die Barmherzigkeit Gottes ein Mißtrauen setzen, sondern weil wir unsere eigene Unwürdigkeit fürchten“ (De excell. Virg., c.6). Die Würde der allerseligsten Jungfrau aber ist so groß, daß der heilige Thomas sie in gewissem Sinne unendlich nennt: „Dadurch, daß sie die Mutter Gottes ist, besitzt sie gewissermaßen eine unendliche Würde. Wir sind daher vollkommen berechtigt zu sagen, daß ihre Bitten mehr vor Gott vermögen als die vereinten Bitten aller Heiligen und seligen Geister im Himmel.“

Wir wollen nun dieses erste Kapitel beschließen, indem wir aus allem, was bisher gesagt wurde, die Folgerung ziehen, daß derjenige, der betet, gewiß selig wird, und wer nicht betet, ganz gewiß verloren geht. Alle Seligen im Himmel, die unmündigen Kinder ausgenommen, sind durch das Gebet selig geworden. Alle Verworfenen sind zugrunde gegangen, weil sie nicht gebetet haben; hätten sie gebetet, so wären sie nicht zugrunde gegangen. Und nichts wird in der Hölle ihre Qual und ihre Verzweiflung höher steigern als der Gedanke, daß sie sich durch ein so leichtes Mittel hätten retten können, da es nichts bedurft hätte, als Gott um seine Gnaden zu bitten, daß aber diese Gnadenzeit für immer vorüber und daß für sie keine Zeit mehr sei, Gott um Gnaden anzurufen.

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Zweites Kapitel: Von der Kraft des Gebetes

Unsere Gebete haben einen solchen Wert vor Gott, daß Er die Engel dazu bestimmt hat, sie Ihm darzubringen, während wir noch beten. „Die Engel sind den Gebeten der Gläubigen vorgesetzt und bringen sie Gott täglich dar“, sagt der heilige Hilarius (I.P. q. 25. art.6. ad 4). Die Gebete der Heiligen sind der wohlriechende Weihrauch, welchen der heilige Johannes durch die Hände der Engel zum Himmel emporsteigen und dem Herrn darbringen sah (Offb 8,4). Und an einem anderen Orte (Offb 5,8) werden die Gebete goldene, mit Wohlgerüchen angefüllte Schalen genannt, welche die Engel in ihren Händen halten. Um zu begreifen, welchen Wert und welche Kraft das Gebet vor Gott hat, genügt es, die zahllosen Verheißungen nachzulesen, welche in den Heiligen Schriften des Alten und des Neuen Bundes den Betenden gegeben werden: „Rufe zu mir, und ich werde dich erhören“ (Jer 33,3). „Rufe mich an am Tag der Not, dann errette ich dich“ (Ps 49,15). „Bittet, und es wird euch gegeben werden. Suchet, und ihr werdet finden. Klopfet an, und es wird euch aufgetan werden“ (Mt 7,7). „Euer Vater, der im Himmel ist, wird denen Gutes geben, die Ihn darum bitten“ (Mt 7,11 ) „Jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet“ (Lk 11,10). „Alles, um was sie bitten werden, wird ihnen mein Vater, der im Himmel ist, gewähren“ (Mt 18,19). „Alles, um was ihr betet und bittet — glaubt, daß ihr es empfangen habt, und es wird euch zuteil werden“ (Mk 11,24). „Wenn ihr mich um irgend etwas in meinem Namen bitten werdet, werde ich es tun“ (Joh 14,14). „Bittet um was ihr wollt, und es wird euch zuteil werden“ (Joh 15,7). „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet, wird Er es euch in meinem Namen geben“ (Joh 16,23). Und so noch viele andere ähnliche Texte, die ich der Kürze wegen übergehe.

Gott will, daß wir selig werden, aber Er will zu unserem eigenen Besten, daß wir als Sieger in den Himmel eingehen. Solange wir hier auf Erden leben, sind wir in einem beständigen Kriegszustande, und um unsere Seele zu retten, müssen wir kämpfen und siegen. „Ohne Sieg kann keiner gekrönt werden“, sagt der heilige Johannes Chrysostomus (Senn. 1 de mart.). Aber wir sind schwach, und unsere Feinde sind zahlreich und mächtig: wie werden wir ihnen also die Stirn bieten und sie überwinden können? Fassen wir Mut und sprechen wir mit dem Apostel: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt“ (Phil 4,13). Durch das Gebet vermögen wir alles; denn das Gebet ist das Mittel, wodurch wir von Gott die Kraft erlangen, die wir aus uns selbst nicht besitzen. „Das Gebet ist nur eines, aber es vermag alles“, sagt Theodoret; und der heilige Bonaventura: „Durch das Gebet erlangen wir den Gewinn alles Guten und die Befreiung von allem Übel.“ Durch das Gebet, sagt der heilige Laurentius Justinianus, erbauen wir uns einen festen Turm, in welchem wir vor allen Nachstellungen der Feinde gesichert und gegen ihre gewaltsamen Angriffe geschützt sind: „Durch Übung des Gebetes kann sich der Mensch mit einer festen Burg umgeben“ (De casto connub., cap.21). Die Gewalt der höllischen Mächte ist groß, aber, sagt der heilige Bernhard, die Gewalt des Gebetes ist noch größer: „Das Gebet ist stärker als alle höllischen Geister“ (Serrno 49 de modo bene viv). Er sagt dies mit Recht, denn durch das Gebet erlangen wir den Beistand Gottes, vor welchem alle Macht der Geschöpfe verschwindet. Damit tröstete und ermutigte sich David, wenn er von Feinden umgeben war: „Lobpreisend werde ich den Herrn anrufen und von meinen Feinden errettet sein“ (Ps 17,4). Der heilige Johannes Chrysostomus faßt alles in Kürze zusammen, wenn er sagt: „Das Gebet ist eine gewaltige Waffe, eine Schutzwehr, ein Hafen und ein Schatz“ (In Psalm 145). Das Gebet ist eine gewaltige Waffe, um alle Angriffe des bösen Feindes zurückzuschlagen, eine Schutzwehr, die uns gegen jede Gefahr beschützt, ein Hafen, der uns in jedem Sturme aufnimmt, ein reicher Schatz, der uns mit allen Gütern versieht, deren wir bedürfen.

Gott weiß, wie heilsam es uns ist, wenn wir in die Notwendigkeit zu beten versetzt werden, und darum läßt Er es zu, wie schon im ersten Kapitel gesagt wurde, daß wir von unseren Feinden angefallen werden, damit wir Ihn dann um den Beistand bitten, den Er uns anbietet und den Er uns verheißen hat. Und wie es Ihm sehr wohlgefällig ist, wenn wir dann in der Gefahr zu Ihm unsere Zuflucht nehmen, so ist es ihm ebenso mißfällig, wenn wir dann unterlassen, zu beten und Ihn um seinen Beistand anzurufen. Ein Kriegsoberster, sagt der heilige Bonaventura, der in einer Festung belagert wird und von seinem König keinen Entsatz verlangt, wird für einen Verräter angesehen: „Man hält ihn für treulos, wenn er von dem Könige keine Hilfe erwartet“ (Diaet. tit. 2. cap. 5). Ebenso sieht Gott es für einen Verrat an, wenn wir von Versuchungen belagert und bestürmt werden und Ihn nicht um Hilfe anrufen, denn er wünscht und erwartet, daß wir Ihn darum bitten, um uns den überfließenden Beistand seiner Gnade zu gewähren. Einen Beleg dafür finden wir in der Heiligen Schrift in den Vorwürfen, die der Prophet dem Könige Achaz machte. Der Prophet hatte ihn im Namen des Herrn aufgefordert, ein Zeichen zu verlangen, damit er des Beistandes versichert sei, welchen ihm der Herr gewähren wollte: „Begehre dir ein Zeichen von dem Herrn!“ Allein der gottlose König antwortete: „Ich will keines begehren und den Herrn nicht versuchen.“ Er sagte dies, weil er auf seine eigenen Kräfte vertraute und meinte, er werde seine Feinde auch ohne den Beistand Gottes besiegen können. Hierauf sprach der Prophet: „So höret denn, Haus Davids: Scheint es euch zu wenig, die Menschen zu ermüden, daß ihr auch meinen Gott ermüdet?“ (ls 7,11‑13). Daraus sehen wir also, daß wir Gott ermüden und beleidigen, wenn wir es unterlassen, Ihn um die Gnaden zu bitten, die Er uns anbietet.

„Kommet zu mir alle, die ihr mühselig seid und beladen, ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). O meine armen Kinder, spricht der Heiland zu uns, die ihr von euren Feinden bedrängt und von der Last eurer Sünden niedergedrückt seid, verzagt nicht, faßt Mut, nehmt durch das Gebet zu mir eure Zuflucht: Ich werde euch die Kraft geben, euren Feinden zu widerstehen, und euch Hilfe und Trost verleihen in eurem Elend. An einer anderen Stelle sagt der Herr durch den Mund des Propheten Isaias: „Kommt und stellt mich zur Rede, spricht der Herr, wenn eure Sünden auch wie Scharlach wären, sollen sie weiß werden wie Schnee“ (ls 1,13). Kommt, ihr Menschenkinder, wie befleckt auch euer Gewissen sein möge, kommt dennoch; ja ich gestatte euch sogar, mir Vorwürfe zu machen, wenn ihr zu mir eure Zuflucht genommen habt und ich durch meine Gnade nicht bewirke, daß ihr weiß werdet wie der Schnee. Wollen wir in Kürze wissen, was das Gebet ist, hören wir, was der heilige Johannes Chrysostomus sagt: „Das Gebet ist den Schwankenden ein Anker, den Armen ein Schatz, die Heilung der Krankheiten, die Bewahrung der Gesundheit.“ Das Gebet ist ein sicherer Anker allen, die in Gefahr sind, Schiffbruch zu leiden; es ist ein unermeßlich reicher Schatz allen Armen und Notleidenden; es ist die kräftigste Arznei wider alle Krankheiten und den Gesunden ein unfehlbares Mittel, sich gesund zu erhalten. Wollen wir ferner wissen, was das Gebet wirkt, hören wir den heiligen Laurentius Justinianus: „Das Gebet besänftigt Gott, es bringt uns die Erfüllung unserer Wünsche, es besiegt unsere Gegner, es verwandelt uns in andere Menschen“ (De perfect. cap. 12). Das Gebet besänftigt den Zorn Gottes, weil Gott sogleich jedem Verzeihung gewährt, der Ihn in Demut darum bittet, es erlangt uns alle Gnaden, die wir begehren, es überwindet alle List und Gewalt unserer Feinde, es verwandelt uns in andere Menschen; denn es macht aus Blinden Erleuchtete, aus Schwachen Starke, aus Sündern Heilige. Bedarf jemand des Lichtes von oben, so bitte er Gott darum, und es wird ihm gegeben werden. Ich rief zu Gott, sagt der Weise, und alsbald ward mir der Geist der Weisheit verliehen. „Ich rief, und der Geist der Weisheit kam in mich“ (Weish 7,7). Bedarf jemand der Stärke, so bitte er Gott darum, und sie wird ihm gegeben werden. Ich hatte kaum meinen Mund, um zu beten, geöffnet, sagt David, als ich auch schon den Geist der Stärke einatmete: „Ich öffnete meinen Mund, und zog den Geist an mich“ (Ps 118,131). Und wenn die heiligen Märtyrer so mutig und standhaft den Tyrannen widerstanden, war es nicht das Gebet, das ihnen die Kraft gab, alle Martern und den Tod zu überwinden?

Wer sich der immer siegreichen Waffe des Gebetes bedient, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, um mit wenigen Worten alles zu sagen „kennt den Tod nicht, verläßt diese Erde, geht in den Himmel ein, lebt mit Gott“ (Sermo 43). Erkennt den Tod nicht, weil er in keine schwere Sünde fällt, er verläßt diese Erde, weil er sich schon von aller Liebe zu den irdischen Dingen losreißt, er geht in den Himmel ein, weil er mit seinen Wünschen und Gedanken im Himmel verweilt: und so beginnt er schon in diesem Leben den beständigen Umgang mit Gott zu genießen. Welchen Nutzen hat es also, wenn manche sich mit dem Gedanken ängstigen, ob sie wohl in das Buch des ewigen Lebens eingeschrieben sind, ob ihnen Gott wohl die wirksame Gnade und die endliche Beharrlichkeit verleihen werde? „Seid nicht ängstlich besorgt, sondern laßt in allen Gebeten und flehentlichen Anrufungen eure Bitten mit Danksagung vor Gott kund werden“ (Phil 4,6). Was nützt es, sagt der Apostel, euch mit diesen ängstlichen Besorgnissen zu beunruhigen? Fort damit, schlagt euch diese Gedanken aus, die nur dazu dienen, euer Vertrauen zu schwächen und euch lauer und träger zu machen auf dem Wege des Heils. Betet, ruft immerfort den Herrn an, laßt Ihn immerfort die Stimme eures Flehens vernehmen und sagt Ihm allezeit Dank für seine Verheißung, euch alle Gaben gewähren zu wollen, die ihr euch wünscht und um die ihr Ihn bittet: die wirksame Gnade, die endliche Beharrlichkeit, das ewige Heil und alles, was ihr verlangt. Der Herr hat uns in das Treffen gestellt und einem Kampfe mit mächtigen Feinden ausgesetzt: aber Er ist getreu in seinen Verheißungen und läßt nicht zu, daß wir heftiger angefochten werden, als wir zu widerstehen vermögen: „Gott aber ist getreu, Er wird nicht zulassen, daß ihr über eure Kräfte versucht werdet“ (1 Kor 10,13). Er ist getreu, weil Er allen, die Ihn anrufen, unverzüglich zu Hilfe kommt. Der Gelehrte Kardinal Gotti sagt, daß Gott zwar nicht verpflichtet sei, uns immer eine Gnade zu verleihen, die der Versuchung gleichkommt, daß Er aber allerdings verpflichtet sei, uns mittels der Gnade, die Er für uns bereithält und allen anbietet, hinreichende Kräfte zu gewähren, um der Versuchung wirklich widerstehen zu können: „Gott ist verpflichtet, wenn wir versucht werden und zu Ihm unsere Zuflucht nehmen, uns durch die bereitgehaltene Gnade rechtzeitig solche Kräfte zu verleihen, daß wir der Versuchung widerstehen können und wirklich widerstehen, denn wir vermögen alles in dem, der uns durch seine Gnade stärkt, wenn wir Ihn demütig darum bitten“ (Theol. T. 2, de gratia, tract.6, q.2, §3, n. 30). Wir haben daher keine Entschuldigung, wenn wir uns durch die Versuchung überwinden lassen; denn wir werden aus unserer eigenen Schuld überwunden, weil wir nicht beten. Durch das Gebet können wir sehr wohl alle Nachstellungen unserer Feinde vereiteln und alle ihre gewaltsamen Angriffe zurückschlagen; denn wie der heilige Augustinus sagt: „Durch das Gebet muß alles von uns weichen, was uns verderblich ist“ (Sermo de oratione).

Der heilige Bernardin von Siena nennt das Gebet einen treuen Boten, der in das innerste Gemach des Königs eingeht und ihn bewegt, uns Elenden beizustehen, die wir in diesem Tale der Tränen seufzen unter der Last so vieler Kämpfe und Mühseligkeiten: „Das Gebet ist der treueste, dem König wohlbekannte Bote, der in sein Gemach einzugehen, durch sein ungestümes Flehen das milde und gütige Herz des Königs zu rühren, und den Bedrängten Hilfe zu erwirken pflegt“ (Serm. in Dom. 3). Der Prophet Isaias versichert uns, daß der Herr, sowie Er unsere Gebete vernimmt, gleich zum Mitleiden bewogen werde und uns nicht lange seufzen und weinen lasse, sondern uns unverzüglich antworte und alles gewähre, was wir von Ihm verlangen: „Du wirst nicht weinen und fortfahren zu weinen, sondern erbarmend wird Er sich deiner erbarmen, und wenn Er die Stimme deines Rufens hört, dir sogleich antworten“ (ls 30,19). An einer anderen Stelle beklagt sich der Herr über uns, indem er durch den Mund des Propheten Jeremias spricht: „Bin Ich denn für Israel zu einer Wüste geworden, oder zu einem Lande, das späte Frucht bringt? Warum spricht denn mein Volk: wir sind abgewichen, wir wollen nicht mehr zu Dir kommen“ (Jer 2,31). Warum sagt ihr, spricht Gott, daß ihr nicht mehr zu mir eure Zuflucht nehmen wollt? Ist etwa meine Barmherzigkeit wie ein unfruchtbares Land, das keine Früchte der Gnade zu bringen vermag, oder wie ein Boden, auf welchem die Früchte zu spät reifen? Damit will unser unendlich liebevoller Herr uns belehren, daß Er nie ermangele, unser Gebet zu erhören, ja daß Er uns alsogleich erhöre, und damit macht Er zugleich denjenigen Vorwürfe, die das Gebet unterlassen, weil sie aus Mangel an Vertrauen fürchten, nicht erhört zu werden. Wenn Gott uns die Erlaubnis gegeben hätte, ihm alle Monate einmal unsere Bitten vorzutragen, so wäre dies schon eine große Gunst, denn die Könige dieser Erde pflegen nur einige Male im Jahr eine Audienz zu geben, allein der König des Himmels gibt uns zu jeder Stunde und in jedem Augenblicke Gehör. Gott ist allezeit bereit, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, unsere Bitten anzuhören, und es kann keinen Fall geben, wo Er sie nicht erhört, wenn wir Ihn bitten, wie es sich gebührt: „Gott ist seinen Dienern allezeit gewärtig, und gerufen, wie es sich gebührt, hat Er es noch nie unterlassen, auf ihre Stimme zu hören“ (Hom. 52 in Matth). Und an einem anderen Orte sagt Er, daß Gott unsere Bitten erhöre, bevor wir noch die Bitten, die wir Ihm vortragen wollen, beendigt haben: „Immer erlangen wir, was wir begehren, selbst während wir noch beten.“ Wir bedürfen jedoch keines anderen Zeugnisses, weil der Herr selbst uns dies verheißen hat: „Während sie noch reden, will ich sie erhören“ (ls 65,24). Der Herr, sagt der Psalmist, ist allen nahe, die ihn anrufen in der Wahrheit, das heißt: wie es sich gebührt, um ihre Wünsche zu erfüllen, ihre Gebete zu erhören und sie aus allen Gefahren zu erretten: „Nahe ist der Herr allen, die ihn anrufen, allen, die ihn anrufen in der Wahrheit: den Willen derer, die ihn fürchten, wird er tun, ihr Gebet erhören und sie erretten“ (Ps144,18). Deshalb sprach Moses zu dem Volke Israel, um ihm den Vorzug zu zeigen, dessen es sich rühmen konnte: „Es ist kein anderes Volk so groß, das seine Götter so nahe hätte, wie unser Gott nahe ist allen unseren Gebeten“ (Dt 4,7). Die Götter der Heiden sind taub gegen die Anrufungen ihrer Verehrer, denn sie sind armselige Geschöpfe, die nichts vermögen, aber unser Gott, der alles vermag, hört unsere Bitten, er ist den Betenden nahe, uns immer bereit, ihnen alle Gnaden zu gewähren, die sie von ihm begehren. „An welchem Tag ich Dich anrufen möge: siehe, ich habe erkannt, daß Du mein Gott bist“.(Ps 55,10). Herr, sagt der Psalmist, daran habe ich erkannt, daß Du mein Gott bist, ein unendlich gütiger und barmherziger Gott, weil ich erkannt habe, daß Du mir noch immer sogleich zu Hilfe gekommen bist, sooft ich meine Zuflucht zu Dir nahm.

Wir sind arm und bedürftig in allen Dingen, allein wir sind es nicht mehr, wenn wir beten. Wenn wir arm sind, so ist Gott reich, und, wie der Apostel bezeugt, überaus freigebig gegen jeden, der seine Hilfe anruft: „Er ist reich für alle, die ihn anrufen“ (Röm 10,12). Da wir also, ermahnt uns der heilige Augustinus, einem unendlich reichen und mächtigen Gott gegenüberstehen, sollen wir Ihn nicht um geringe und wertlose, sondern um große Dinge bitten: „Ihr bittet einen Allmächtigen, so bittet Ihn denn um etwas Großes.“ Wenn jemand von einem König nichts anderes begehren wollte als einen Pfennig, so würde es scheinen, daß er ihm eine Unehre antun wolle, weil er um eine Gabe bittet, die eines Königs nicht würdig ist. Wir ehren daher Gott, wir ehren seine Barmherzigkeit und seine Freigebigkeit, wenn wir erkennen, wie elend und wie unwürdig wir sind, eine Gnade zu empfangen, und dessenungeachtet ihn um Gnaden bitten im Vertrauen auf seine Güte und auf seine Treue, da Er uns verheißen hat, uns jede Gabe zu gewähren, um die wir Ihn bitten werden. „Was ihr immer wollt, bittet, und es wird euch geschehen“ (Joh 15,11). Die heilige Maria Magdalena von Pazzi sagte, Gott sehe es als eine Ehre an, die wir ihm erzeigen, wenn wir Ihn um Gnaden bitten, und es sei Ihm dies so angenehm, daß Er uns in gewisser Weise danke, weil wir Ihm den Weg eröffnen, uns mit seinen Wohltaten zu beschenken und so seiner Neigung, allen Gutes zu erweisen, Genüge zu tun. Und wir können versichert sein, daß Gott, wenn wir Ihn um Gnaden bitten, uns immer mehr gibt, als wir verlangen: „Wenn jemand aus euch Weisheit bedarf, der begehre sie von Gott, welcher allen reichlich und ohne harte Worte gibt: und sie wird ihm gegeben werden“ (Jak 1,5). Der Apostel sagt dies, um uns dadurch zu belehren, daß Gott nicht, wie die Menschen, karg ist mit seinen Gaben. Die Menschen, auch die Reichen, selbst die frommen und freigebigen, wenn sie Almosen austeilen, sind immer zurückhaltend und geben meistens weniger, als von ihnen verlangt wird, denn ihre Reichtümer, so groß sie auch sein mögen, sind nicht unerschöpflich und vermindern sich in dem Maße, als anderen davon gegeben wird. Gott aber, wenn wir ihn darum bitten, gibt „reichlich“, das heißt: mit vollen Händen und mehr als verlangt wurde, denn seine Reichtümer sind unendlich und unerschöpflich, und je mehr Er gibt, desto mehr bleibt Ihm zu geben übrig: „Denn Du, o Herr, bist gütig und milde, und von großer Erbarmung für alle, die Dich anrufen“ (Ps 85,5).

Wir sollen also immer bedacht sein, mit Vertrauen und mit der Zuversicht zu beten, daß sich uns durch das Gebet alle Schätze des Himmels erschließen werden. „Dies sei unsere Sorge“, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, „und der Himmel wird sich uns eröffnen.“ Das Gebet ist ein Schatz: Wer mehr betet, empfängt mehr davon, und durch das Gebet erwerben wir uns Güter, die sich mit allem, was auf dieser Welt ist, nicht vergleichen lassen. „An jedem Tage gewinnt der Mensch durch das andächtige Gebet mehr als die ganze Welt wert ist“, sagt der heilige Bonaventura (In Luc. 18). Manche frommen Seelen verwenden viele Zeit auf das Lesen und Betrachten, sind aber nur wenig darauf bedacht, das Bittgebet zu üben. Es ist kein Zweifel, daß die geistliche Lesung und die Betrachtung der ewigen Wahrheiten sehr nützlich und heilsam ist, aber noch nützlicher und heilsamer, wie der heilige Augustinus sagt, ist das Gebet, denn durch die Lesung und Betrachtung lernen wir unsere Pflichten kennen, durch das Gebet aber erlangen wir die Gnade, sie zu erfüllen: „Besser ist beten als lesen, denn durch die Lesung erkennen wir, was wir tun sollen, durch das Gebet aber empfangen wir, was wir begehren“ (In Psalm 75). Was nützt es uns, wenn wir erkennen, was wir zu tun verpflichtet sind, und es nachher nicht tun und uns dadurch vor Gott noch strafbarer machen? Wir mögen lesen und betrachten, wie wir wollen, wir werden dennoch unsere Pflichten nicht erfüllen, wenn wir Gott nicht um seinen Beistand bitten.

Deshalb, wie der heilige Isidor sagt, ist der böse Feind niemals mehr bemüht, uns durch Gedanken an zeitliche Dinge und Sorgen zu zerstreuen, als wenn er sieht, daß wir beten und Gott um Gnaden bitten. „Wenn der böse Feind einen Betenden erblickt, dann gibt er ihm am meisten zerstreuende Gedanken ein“ (Lib. 3. sent. cap. 3). Und warum das? Weil er weiß, daß wir uns zu keiner Zeit mehr mit himmlischen Schätzen bereichern, als wenn wir beten. Darin besteht hauptsächlich der Nutzen des innerlichen oder betrachtenden Gebetes, daß wir dadurch veranlaßt werden, Gott um die Gnaden zu bitten, deren wir bedürfen, um auszuharren und unser ewiges Heil zu wirken. Und dies ist der vorzüglichste Grund, warum das innerliche Gebet moralisch notwendig ist, sich im Stande der Gnade zu erhalten; denn wenn wir nicht zur Zeit der Betrachtung, wo wir im Geiste versammelt sind, von Gott die notwendigen Gnadenhilfen, um auszuharren, begehren, so werden wir es zu keiner anderen Zeit tun: wir werden ohne die Betrachtung gar nicht daran denken, ja nicht einmal uns erinnern, daß wir um diese Gnaden bitten müssen. Wer dagegen täglich seine Betrachtung hält, wird die Bedürfnisse seiner Seele, die Gefahren, die ihn umgeben, und die Notwendigkeit des Gebetes erkennen: er wird daher beten, durch das Gebet alle nötigen Gnaden erlangen, durch diese Gnaden gestärkt im Guten verharren und sein Heil wirken. Der Pater Segneri erzählt, er habe sich anfänglich bei dem betrachtenden Gebet mehr damit beschäftigt, Anmutungen zu erwecken, als um Gnaden zu bitten, später aber habe er die Notwendigkeit und den unermeßlichen Nutzen des Bittgebetes erkannt, und sodann bei seinen vielen Betrachtungen die Zeit größtenteils auf das Bittgebet verwendet.

„Ich werde schreien wie eine junge Schwalbe“, sprach der fromme König Ezechias (ls 38,11). Wir wissen, daß die jungen Schwalben im Neste unaufhörlich schreien, und durch dieses Schreien Hilfe und Nahrung begehren. Dasselbe sollen auch wir tun, wenn wir das Leben der Gnade bewahren wollen: wir sollten unablässig zu Gott schreien und ihn um Hilfe bitten, um nicht das Leben der Gnade durch die Sünde zu verlieren und um uns in seiner heiligen Liebe immer mehr zu festigen. Wie P. Rodriguez erzählt, berieten sich einst die Altväter in der Wüste, die wir als unsere ersten Lehrer im geistlichen Leben zu betrachten haben, über die Frage, welche fromme Übung die nützlichste und zu dem ewigen Heil die notwendigste sei, und sie entschieden sich für die oftmalige Wiederholung des kurzen Gebetes, welches in den Psalmen vorkommt: „O Gott, merke auf meine Hilfe; Herr, eile mir zu helfen.“ Und wir alle, sagt Cassian, wenn wir unsere Seele retten wollen, sollen immerfort ausrufen: „Hilf mir, o mein Gott, Herr, komm mir zu Hilfe!“ So sollen wir zuerst des Morgens beten, wenn wir erwachen, und sodann bei allen unseren Geschäften und Verrichtungen, den geistlichen und zeitlichen, vorzüglich aber wenn wir von einer Versuchung überfallen werden, oder uns in einer leidenschaftlichen Gemütsbewegung befinden. „Manchmal erlangen wir etwas schneller durch ein kurzes Gebet als durch andere fromme Werke“, sagt der heilige Bonaventura (De prot. rel. lib. 2. cap. 68). Und der heilige Ambrosius fügt hinzu: „Wer Gott um etwas bittet, empfängt, während er bittet; denn das Bitten ist eins mit dem Empfangen“ (Epist. 48 ad Demetr.). Deshalb hält der heilige Johannes Chrysostomus dafür, daß niemand eine größere Macht besitze als ein Betender: „Nichts ist mächtiger als ein Mensch, der betet“; denn durch das Gebet wird er der Macht Gottes teilhaftig. Um zur Vollkommenheit aufzusteigen, sagt der heilige Bernhard, bedürfen wir der Betrachtung, um zu erkennen, was uns mangelt, und des Gebetes, um zu empfangen, was uns notwendig ist: „Steigen wir auf durch die Betrachtung und das Gebet, jene lehrt uns, was fehlt, dieses erlangt, daß es uns nicht mehr fehle“ (Sermo 1 de S. Andrea.).

Mit einem Worte, ohne zu beten, ist es schwer, ja, wie wir gesehen haben, nach dem gewöhnlichen Gange der Vorsehung unmöglich, selig zu werden; mit dem Gebete aber ist es leicht und sicher, sein Heil zu wirken. Es ist zur Seligkeit nicht notwendig, sich in die Länder der Ungläubigen zu begeben und sein Leben für den Glauben hinzugeben; es ist auch nicht notwendig, sich in eine Wüste zurückzuziehen und von den Wurzeln und Kräutern zu leben, aber das ist notwendig, Gott anzurufen und zu sprechen: „Mein Gott, hilf mir, Herr, steh mir bei, erbarme dich meiner!“ Was kann es Leichteres geben; und doch ist dieses Wenige genügend, um unser Heil zu wirken, wenn wir es beharrlich üben. Insbesondere ermahnt uns der heilige Laurentius Justinianus, wenigstens bei dem Anfange einer jeden Handlung zu beten; und Cassian bezeugt, daß die Altväter in der Wüste nichts so dringend empfahlen als die fromme Übung, durch kurze, aber häufig wiederholte Stoßgebete Gott um seinen Beistand anzurufen. „Niemand soll sein Gebet gering achten“, sagt der heilige Bernhard, „denn Gott selbst achtet es nicht gering: Er wird uns entweder geben, was wir von Ihm verlangen, oder was Er weiß, daß es uns nützlicher ist“ (Sermo 3 de Quadrag.). Wir müssen auch wohl achthaben, daß wir uns nicht entschuldigen können, wenn wir nicht beten, denn die Gnade zu beten wird jedem gegeben; und es steht in unserer Hand, zu beten, sooft wir wollen, wie dies der Psalmist bezeugt: „Bei mir steht das Gebet zu dem Gott meines Lebens: ich werde zu Gott sprechen: Du bist es, der mich aufnimmt“ (Ps 11,12). Über diesen Punkt werde ich ausführlicher im vierten Teil sprechen und nachweisen, daß Gott allen die Gnade zu beten verleiht, und daß alle durch das Gebet hinreichende, ja sogar überfließende Gnadenhilfen erlangen können, um das Gesetz Gottes zu beobachten und bis zum Tode im Guten zu verharren. Für jetzt sage ich nur, daß es unsere eigene Schuld sein wird, wenn wir unser Heil nicht wirken, und der Fehler nur an uns liegen wird: weil wir das Gebet vernachlässigt haben.

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Drittes Kapitel: Von den Eigenschaften des Gebetes

„Wahrlich, wahrlich ich sage euch: wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bitten werdet, so wird Er es euch geben“ (Joh 16,23). Es ist also eine Verheißung Jesu Christi, daß wir alles, was wir in seinem Namen bitten, von dem Vater erlangen werden, allein diese Verheißung ist immer unter der Bedingung zu verstehen, daß wir bitten, wie wir sollen, und daß unser Gebet die nötigen Eigenschaften besitze. „Ihr bittet, und erhaltet nicht, weil ihr nicht recht bittet“, sagt der heilige Jakobus (Jak 4,3). Und der heilige Basilius erklärt diese Worte dahin, daß manche bitten und nichts empfangen, weil sie entweder vermessentlich bitten, oder ohne festen Glauben und Vertrauen oder leichtsinnig mit einem geringen Verlangen, die Gnade zu erhalten; oder weil sie um Dinge bitten, die ihrem ewigen Heile nicht zuträglich sind, oder endlich, weil sie ablassen zu beten und im Gebete nicht ausharren (Const. Mon. cap. 1 versus fin.). Der heilige Thomas hat jedoch die Erfordernisse oder Bedingungen, damit unser Gebet allezeit erhört werde, auf vier zurückgeführt, nämlich „daß man für sich selbst und um Dinge bitte, die zu unserem Heile notwendig sind und, daß man mit Andacht und beharrlich bitte“ (II II, 83,7, ad 2).

Die erste Bedingung ist also, daß man für sich selbst bete; denn der englische Lehrer hält dafür, daß wir das ewige Heil und folglich auch alle hierzu nötigen Gnaden für andere nicht mit demselben Anspruche auf Erhörung und mit derselben Gewißheit („ex condigno“ lautet der theologische Fachausdruck) begehren können, wie für uns selbst, denn, sagt der Heilige, die Verheißung ist nicht für andere gegeben, sondern nur für den Betenden selbst: „So wird Er es euch geben.“ Dessenungeachtet behaupten viele Theologen (Cornelius a Lapide, Sylvester, Tolet, Habert et alii) das Gegenteil, gestützt auf die Autorität des heiligen Basilius, welcher lehrt, daß das Gebet in Kraft der göttlichen Verheißung unfehlbar seine Wirkung hervorbringe, selbst dann, wenn wir für andere beten, und diese anderen nicht ein positives Hindernis entgegensetzen. Sie berufen sich hierbei auch auf mehrere Texte der Heiligen Schrift: „Betet füreinander, damit ihr das Heil erlangt, denn viel vermag das beharrliche Gebet des Gerechten“ (Jak 5,15). „Betet für die, welche euch verfolgen und verleumden“ (Lk 6,29). Vorzüglich aber, und mit noch größerer Beweiskraft auf den Text bei Johannes: „Wer weiß, daß sein Bruder sündigt, aber nicht zum Tode, der bitte, und es wird dem, der nicht zum Tode sündigt, das Leben gegeben werden“ (Joh 5,16). Der heilige Augustinus, der heilige Ambrosius, der ehrwürdige Beda und andere (apud Calmet in loc.cit.) verstehen die Worte „der nicht zum Tode sündigt“ von Sündern, die noch nicht einen solchen Grad von Verhärtung erreicht haben, daß sie bis zum Tode in der Sünde zu verharren entschlossen sind; denn Sünder dieser Art würden einer ganz außerordentlichen Gnade bedürfen. Was aber die übrigen Sünder anbelangt, die keinen so hohen Grad an Bosheit erreicht haben, so verheißt der Apostel denen, die für sie beten, die Bekehrung: „Er bitte, und das Leben des Sünders wird ihm gegeben werden.“

Übrigens besteht darüber kein Zweifel, daß die Gebete anderer den Sündern sehr nützlich und hilfreich und daß sie Gott überaus wohlgefällig sind. Der Herr beklagt sich, wenn seine Diener ihm die Sünder nicht genügend anempfehlen. Er sprach eines Tages zu der heiligen Maria Magdalena von Pazzi: „Siehe, meine Tochter, wie so viele Christen in der Gewalt des bösen Feindes sind: wenn meine geliebten Seelen sie nicht aus dieser Gewalt befreien, so wird er sie verschlingen.“ Ganz besonders aber wünscht und verlangt dies der Herr von den Priestern und Ordensleuten. Deshalb sagte die Heilige oft zu ihren Mitschwestern: „Schwestern, Gott hat uns nicht aus der Welt in den Ordensstand berufen, damit wir nur für uns selbst gute Werke verrichten, sondern auch damit wir seinen Zorn über die Sünder besänftigen und ihnen Gnade erwirken.“ Der Herr selbst sprach einmal zu ihr: „Ich habe euch, meinen auserwählten Bräuten, eine Stadt der Zuflucht (nämlich sein bitteres Leiden und Sterben) gegeben, damit ihr wisset, wohin ihr euch zu wenden habt, um meinen Geschöpfen beizustehen: nehmet also dahin eure Zuflucht, kommt dort meinen Geschöpfen zu Hilfe, die in Gefahr sind, zugrunde zu gehen, und setzt euer Leben für sie ein.“ Durch diese Worte wurde die Heilige zu einem solchen Eifer entflammt, daß sie fünfzigmal des Tages Gott das kostbare Blut Jesu Christi für die Sünder darbrachte, und von dem Verlangen, ihre Bekehrung zu erwirken, fast verzehrt wurde. „O welch ein Schmerz ist es“, sagte sie zu dem Herrn, „zu wissen, daß wir deinen Geschöpfen helfen können, wenn wir unser Leben für sie aufopfern, und dieses Opfer doch nicht bringen zu können!“ Sie empfahl auch Gott die Sünder bei jeder ihrer geistlichen Übungen, und es wird erzählt, daß beinahe keine Stunde des Tages vorüberging, in der sie nicht für sie gebetet hätte; ja, sie stand oft mitten in der Nacht auf und begab sich vor das allerheiligste Sakrament, um für ihre Bekehrung zu beten. Dessenungeachtet vergoß sie eines Tages bittere Tränen, und als man sie um die Ursache fragte, antwortete sie: „Ich weine, weil es mir scheint, daß ich gar nichts für das Heil der Sünder tue.“ Sie ging in ihrem glühenden Eifer so weit, daß sie sich erbot, selbst die Peinen der Hölle unter der Bedingung, daß sie in der Hölle Gott nicht hasse, für die Bekehrung der Sünder zu erdulden; und sie erlangte in der Tat durch ihre Bitten, daß Gott ihr öfters große Schmerzen und schwere Krankheiten zuschickte, um dadurch den Sündern Gnade zu erwirken. Insbesondere betete sie für die Priester, weil sie wußte, daß ihr erbaulicher Lebenswandel anderen zum Heile, und ebenso ihr schlechter Lebenswandel vielen zum Verderben gereiche, und deshalb bat sie Gott, daß er die Sünden der Priester an ihr strafen wolle. „Herr“, sprach sie, „laß mich sooft sterben und ebensooft wieder von neuem zum Leben erweckt werden, bis ich für sie deiner Gerechtigkeit Genugtuung geleistet habe.“ Es wird auch in ihrem Leben berichtet, daß sie in der Tat viele Seelen durch ihre eifrigen Gebete den Händen des Satans entrissen habe.

Ich konnte nicht umhin, den Eifer dieser Heiligen hervorzuheben und diese besonderen Züge zu erzählen; indessen beten alle Gott wahrhaft liebenden Seelen unablässig für die Bekehrung der Sünder. Wie wäre es auch möglich, daß eine solche Seele, die weiß, wie sehr Gott die Menschen liebt, die weiß, was Jesus Christus getan und gelitten hat, um sie zu erlösen, die weiß, wie sehr unser Heiland wünscht und verlangt, daß wir für die Sünder beten: wie wäre es möglich, sage ich, daß sie so viele Seelen, die ohne Gott in der Dienstbarkeit der Hölle dahinleben, gleichgültig ansehen könnte, ohne sich zu rühren und ohne sich zu bemühen, den Herrn durch häufige und inständige Gebete zu bewegen, daß Er diesen Unglücklichen Licht und Kraft verleihen möge, um sich aus ihrem Todesschlafe zu erheben und sich dem ewigen Verderben zu entreißen. Es ist wahr, daß Gott uns nicht verheißen hat, uns zu erhören, wenn diejenigen, für welche wir beten, ein positives Hindernis entgegenstellen; allein dessenungeachtet hat es dem Herrn in seiner unendlichen Barmherzigkeit sehr oft gefallen, um des Gebetes seiner Diener willen selbst solche Sünder, deren Verblendung und Verstockung den höchsten Grad erreicht hatte, durch außerordentliche Gnaden auf den Weg des Heils zurückzuführen. Wir sollen daher niemals die heilige Messe lesen oder anhören, die heilige Kommunion empfangen, das innerliche Gebet üben, das allerheiligste Sakrament besuchen, ohne die armen, unglücklichen Seelen Gott anzuempfehlen. Ein gelehrter Schriftsteller sagt, daß wir schneller erhört werden, wenn wir für andere beten, als wenn wir für uns selbst beten. Dies sei jedoch nur im Vorübergehen bemerkt, wir wollen jetzt die weiteren Bedingungen betrachten, die der heilige Thomas fordert, damit das Gebet seinen Erfolg habe.

Die zweite Bedingung ist: daß wir um solche Gnaden bitten, deren wir zu unserem ewigen Heile bedürfen; denn die göttliche Verheißung ist nicht für zeitliche Gnaden gegeben, die zu unserem geistlichen Wohle nicht notwendig sind. Der heilige Augustinus erklärt die oben angeführten Worte des Evangeliums: „Um was ihr mich bitten werdet in meinem Namen“ dahin: „daß wir nicht im Namen des Erlösers bitten, wenn wir um etwas bitten, das unserem Heile entgegen ist“ (Tract. 102 in Joan.).

Wir bitten zuweilen Gott um zeitliche Gnaden, und Gott erhört uns nicht; aber Er erhört uns nicht, sagt derselbe Heilige, weil Er uns liebt, und weil Er sich uns barmherzig erzeigen will: „Wer Gott demütig und mit Vertrauen um Dinge bittet, deren wir in diesem Leben bedürfen, wird manchmal aus Barmherzigkeit erhört, und manchmal aus Barmherzigkeit nicht erhört; denn was dem Kranken heilsam ist, weiß der Arzt besser als der Kranke selbst“ (Tom. 3, cap. 212). Ein Arzt, der um das Wohl des Kranken besorgt ist, wird ihm niemals Dinge erlauben, von welchen er weiß, daß sie ihm schädlich wären. O wie viele, die reich oder gesund sind, würden die Sünden nicht begangen haben, die sie begehen, wenn sie arm oder krank wären! Deshalb versagt der Herr manchem die leibliche Gesundheit oder zeitliche Güter, um die sie Ihn bitten, weil Er sie liebt und voraussieht, daß die Gewährung ihrer Bitte für sie ein Anlaß wäre, seine Gnade zu verlieren, oder wenigstens im geistlichen Leben lauer zu werden. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß es ein Fehler sei, wenn wir Gott um zeitliche Dinge bitten, deren wir in diesem irdischen Leben bedürfen, insoweit sie unserem ewigen Heile nicht entgegen sind; gleichwie auch der Weise zu dem Herrn betete: „Gewähre mir nur das, was zu meinem Unterhalte notwendig ist“ (Spr 30,8). Eine mäßige und geregelte Sorge um solche Dinge ist kein Fehler, sagt der heilige Thomas, sie wird erst dann fehlerhaft, wenn wir hauptsächlich und vorzugsweise nach zeitlichen Gütern verlangen und streben, und uns mit solchem Eifer darum bekümmern, als ob unser ganzes Wohl davon abhinge (II II, 83,6). Wenn wir daher von Gott zeitliche Güter verlangen, so sollen wir sie immer mit Ergebung in seinen Willen und unter der Bedingung begehren, daß sie unserer Seele zum Heile gereichen, und wenn wir sehen, daß der Herr sie uns nicht gewährt, so müssen wir überzeugt sein, daß Er sie uns nur aus Liebe versagt, weil Er voraussieht, daß sie unserem geistlichen Wohle schädlich sein würden.

Oft bitten wir den Herrn, daß Er uns von einer gefährlichen Versuchung befreien möge, und Gott erhört auch dieses Gebet nicht, wiewohl wir Ihn um eine geistliche Gnade bitten, und läßt es zu, daß die Versuchung nicht aufhört, uns zu belästigen: und dann müssen wir für gewiß halten, daß der Herr auch dies zu unserem Besten zulasse. Nicht die Versuchungen und die bösen Gedanken sind es, welche uns von Gott entfernen, sondern die Einwilligung in diese Gedanken. Wenn die Seele in der Versuchung Gott um Hilfe anruft, und mit dem Beistand seiner Gnade die Versuchung überwindet, o wie sehr wird sie dadurch in der Vollkommenheit gefördert, und wie sehr wird sie angetrieben, sich noch inniger an Gott anzuschließen: und dies ist eben der Grund, warum der Herr sie nicht erhören will. Der heilige Paulus bat Gott inständig, daß Er ihn von den unreinen Versuchungen befreien möge: „Es wurde mir ein Stachel meines Fleisches gegeben, ein Engel des Satans, daß er mich mit Fäusten schlage, und ich habe deshalb dreimal den Herrn gebeten, daß er von mir weiche.“ Allein der Herr antwortete ihm: „Es genügt dir meine Gnade“ (2 Kor 12,7). Und so sollen auch wir in den Versuchungen mit Geduld und Eingebung beten, und sprechen: „Herr, befreie mich von dieser Pein, wenn es mir heilsam ist, davon befreit zu werden; wenn nicht, gib mir wenigstens die Kraft, zu widerstehen und die Versuchung zu überwinden.“ Und dabei sollen wir uns an das erinnern, was der heilige Bernhard sagt: daß Gott, wenn wir Ihn um eine Gnade bitten, entweder diese Gnade gewährt, oder eine andere verleiht, die uns noch nützlicher ist. Gott läßt uns oft solche Stürme erdulden, um unsere Treue zu erproben und um uns mit größeren Schätzen seiner Gnade zu bereichern. Es scheint uns dann, daß Er taub sei gegen unsere Bitten, allein es ist dies ein bloßer Schein; wir können vielmehr versichert sein, daß Er unsere Bitten sehr wohl hört und erhört und uns auf verborgene Weise mit seiner Gnade beisteht, indem Er unserem Willen eine solche Stärke verleiht, daß wir jedem Angriffe unserer Feinde zu widerstehen vermögen. Der Herr selbst hat uns durch den Mund des Propheten diese Versicherung gegeben: „In der Trübsal hast du mich angerufen, und ich habe dich errettet: ich habe dich erhört in der Verborgenheit des Sturmes; ich habe dich geprüft bei dem Wasser des Widerspruchs“ (Ps 89,8).

Die weiteren Bedingungen oder Eigenschaften des Gebetes, die der heilige Thomas fordert, sind die Andacht und die Beharrlichkeit. Unter der Andacht oder Frömmigkeit ist zu verstehen, daß man mit Demut und Vertrauen bete; und unter der Beharrlichkeit, daß man nicht ablasse zu beten bis zu seinem Tode. Von diesen Bedingungen oder Eigenschaften des Gebetes, nämlich der Demut, dem Vertrauen und der Beharrlichkeit, welche die wichtigsten und notwendigsten Eigenschaften des Gebetes sind, werde ich jetzt schreiben und zwar von jeder insbesonders.

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§ 1: Von der Demut, mit der man beten muß

Der Herr sieht gnädig die Bitten seiner Diener an, aber nur die Bitten seiner demütigen Diener: „Er hat angesehen das Gebet des Demütigen“ (Ps 101,18). Wo die Demut fehlt, sieht Er das Gebet nicht nur nicht an, sondern Er weist es von sich ab: „Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt Er Gnade“ (Jak 4,6). Der Herr hört nicht auf das Gebet der Hochmütigen, die auf ihre Kräfte vertrauen, Er überläßt sie ihrem Elende, und da sie in diesem Zustande des göttlichen Beistands beraubt sind, gehen sie unfehlbar zugrunde. Darum klagte David: „Bevor ich gedemütigt wurde, habe ich gesündigt“ (Ps 118,67). Ich habe gesündigt, weil ich nicht demütig war. Ebenso erging es dem heiligen Petrus. Der Herr sagte es seinen Jüngern voraus, daß in der Nacht seines Leidens alle Ihn verlassen würden: „Ihr alle werdet Ärgernis nehmen an mir in dieser Nacht“ (Mt 26,31). Allein Petrus, statt seine Schwäche zu erkennen und den Herrn um die Gnade zu bitten, treu und standhaft zu bleiben, vertraute auf seine eigene Kraft und beteuerte, er werde bei Ihm ausharren, wenn auch alle Ihn verlassen sollten: „Und wenn sich auch alle an Dir ärgern, so werde doch ich mich niemals ärgern.“ Hierauf sagte der Herr nochmals, und ihm insbesonders voraus, daß er Ihn in dieser Nacht, bevor der Hahn krähe, dreimal verleugnen werde; allein Petrus verharrte in seiner Vermessenheit, verließ sich auf seinen Mut und sprach sich selbst rühmend: „Wenn ich auch mit Dir sterben müßte, so werde ich Dich doch niemals verleugnen.“ Allein es kam ganz anders, als er gedacht hatte. Kaum hatte er das Haus des Hohenpriesters betreten, kaum hatte man ihm vorgeworfen, daß er ein Schüler Jesu sei, so verleugnete er seinen Meister dreimal, und beteuerte mit einem Eide, daß er Ihn niemals gekannt habe. „Und er leugnete abermals mit einem Schwure: 'Ich kenne diesen Menschen nicht‘“ (Mt 26,72). Hätte Petrus sich gedemütigt, hätte er den Herrn um die Gnade der Standhaftigkeit gebeten, so würde er Ihn nicht verleugnet haben.

Wir sollen uns alle vorstellen, daß wir uns gleichsam auf dem Gipfel eines hohen Berges befinden, und über einem bodenlosen Abgrund, dem Abgrund der Sünde, schweben, und daß uns nichts hält als der Faden der Gnade. Zieht Gott diesen Faden zurück, so stürzen wir unfehlbar in den Abgrund hinab, und werden die größten Sünden und Schandtaten begehen: „Hätte der Herr mir nicht geholfen, so würde meine Seele vielleicht schon in der Hölle wohnen“ (Ps 93,17). Wäre Gott mir nicht zu Hilfe gekommen, so hätte ich tausend Sünden begangen, und wäre vielleicht jetzt schon in der Hölle. So sprach der Psalmist, und so sollte jeder von uns sprechen. In diesem Sinne versicherte der heilige Franziskus von Assisi, daß er der größte Sünder auf Erden sei. „Mein Vater“, entgegnete ihm ein Bruder, „was du da sagst, ist nicht wahr, denn es gibt viele auf dieser Welt, die ganz gewiß schlechter sind als du.“ „Und doch ist es wahr“, erwiderte der Heilige“, denn wenn Gott nicht seine schützende Hand über mich hielte, so würde ich alle möglichen Sünden begehen.“

Es ist ein Glaubenssatz, daß wir ohne die Gnade Gottes kein gutes Werk üben, ja nicht einmal einen guten Gedanken fassen können. „Ohne die Gnade tun die Menschen durchaus nichts Gutes, weder in Werken noch in Gedanken“ (De corr. et gratia, cap. 1), sagt der heilige Augustinus. Gleichwie das Auge nicht sehen kann ohne Licht, so kann auch der Mensch nichts Gutes tun ohne die Gnade. Es ist damit nur ausgesprochen, was der Apostel sagt: „Nicht, daß wir imstande sind, aus uns selbst etwas zu denken, wie aus eigener Kraft, sondern unser Vermögen ist aus Gott“ (2 Kor 3,3). Und schon vor dem Apostel sagte der Psalmist: „Wenn der Herr das Haus nicht baut, so arbeiten die Bauleute vergeblich“ (Ps 126,1). Vergeblich bemüht sich der Mensch, sich zu heiligen, wenn der Herr nicht Hand anlegt. „Wenn der Herr die Stadt nicht bewacht, so wacht der Wächter vergeblich“ (ebd.). Wenn Gott die Seele nicht vor der Sünde bewahrt, so wird sie sich vergeblich bemühen, sich aus eigener Kraft zu hüten. Deshalb beteuerte David, daß er sich nicht auf seine Waffen, auf Bogen und Pfeil verlasse, sondern nur auf die Hilfe des Herrn, der allein ihn erretten könne: „Ich werde nicht auf meinen Bogen vertrauen“ (Ps 43,7).

Wenn wir also etwas Gutes getan, oder wenigstens nicht noch größere Sünden begangen haben, so müssen wir mit dem Apostel sprechen: „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin“ (1 Kor 15,20). Und eben deshalb müssen wir unablässig zittern und fürchten, daß wir fallen werden bei der mindesten Versuchung oder Gelegenheit zur Sünde: „Wer da meint, daß er stehe, der sehe zu, daß er nicht falle“ (1 Kor 10,12). Mit diesen Worten belehrt uns der Apostel, daß derjenige in besonders großer Gefahr schwebe zu fallen, der sich sicher glaubt, daß er nicht fallen werde. Den Grund gibt der Apostel an einem anderen Orte an: „Denn wenn sich jemand einbildet, etwas zu sein, da er doch nichts ist, so betrügt er sich selbst“ (Gal 6,3). Mit großer Weisheit sagt deshalb der heilige Augustinus: „Was viele verhindert, stark zu werden, ist ihr Glaube, stark zu sein; keiner wird jemals stark werden, der sich nicht schwach fühlt“ (Serm. 13 de verb. Dom.). Wer sagt, daß er sich nicht fürchte, beweist dadurch, daß er auf sich selbst und seine Vorsätze vertraut, durch dieses verderbliche Selbstvertrauen betrügt er sich aber selbst; denn er fürchtet sich nicht, weil er sich auf seine eigenen Kräfte verläßt; weil er sich aber nicht fürchtet, unterläßt er es, Gott um Hilfe anzurufen: und dann ist sein Fall unvermeidlich. Deshalb soll auch jeder achthaben, sich nicht mit einer gewissen Selbstgefälligkeit über den Fall oder die Sünden anderer zu verwundern, wie wenn ihm dies nicht widerfahren könnte, sondern vielmehr sich selbst für schwächer und schlechter halten als alle anderen, und denken und sprechen: „Herr, hättest du mich nicht mit deiner Gnade unterstützt, so hätte ich noch viel Schlimmeres verübt“; sonst wird der Herr zur Strafe seines Hochmutes es zulassen, daß er in dieselben oder noch viel größere Sünden falle. Deshalb ermahnt uns der Apostel: „Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12). Mit Furcht und Zittern; denn wer in großer Furcht und Sorge lebt, daß er fallen könne, mißtraut seinen eigenen Kräften und setzt sein ganzes Vertrauen in Gott: er wird daher auch in allen Gefahren zu Gott seine Zuflucht nehmen, und der Herr wird ihm beistehen, und so wird er die Versuchungen überwinden und sein Heil wirken. Der heilige Philipp Neri rief eines Tages auf der Straße aus: „Ich verzweifle!“ Ein Ordenspriester, der diese Worte hörte, wollte ihm hierüber eine wohlgemeinte Ermahnung geben, allein der Heilige antwortete: „Mein Vater, ich verzweifle nur an mir selbst; ich vertraue aber auf Gott.“ Und so müssen auch wir gesinnt sein, wenn wir unser Heil wirken wollen, wir sollen in einer beständigen Verzweiflung an uns selbst und an unseren Kräften leben, und täglich beten wie derselbe Heilige, der täglich bei seinem ersten Erwachen zu Gott sprach: „Herr, halte heute deine schützende Hand über den Philipp; sonst wird der Philipp Dich heute verraten und verkaufen.“

Wenn wir also das Gesagte mit dem heiligen Augustinus kurz zusammenfassen wollen, so besteht die größte Wissenschaft und Weisheit eines Christen darin: zu erkennen, daß er nichts ist und nichts vermag. „Dies ist die Wissenschaft der Wissenschaften: zu wissen, daß der Mensch nichts ist“ (In Psalm 70). Wer dies erkennt und von dieser Erkenntnis durchdrungen ist, wird nicht ablassen, sich von Gott jene Kräfte zu erbitten, die er selbst nicht besitzt, und deren er bedarf, um den Versuchungen zu widerstehen und um das Gute zu tun; und er wird dann alles mit dem Beistand des Herrn tun, der den Demütigen keine Bitte abzuschlagen vermag. „Das Gebet des Menschen, der sich demütigt, wird durch die Wolken dringen und nicht weichen, bis der Allerhöchste es ansieht“ (Sir 35,21). Das Gebet einer demütigen Seele dringt bis zum Throne des Allerhöchsten und läßt sich nicht abweisen, bis es Erhörung findet; und mag eine Seele sich noch so sehr verschuldet haben, der Herr wird ihr Gebet nicht verschmähen; denn, wie es in den Psalmen heißt: „Ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst Du, o Gott, nicht verachten“ (Ps 50,19). So strenge Gott mit dem Hochmütigen verfährt und so unerbittlich Er sie zurückweist, so gütig und freigebig ist Er gegen die Demütigen. „Gott widersteht den Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt Er Gnade“ (Jak 4,6). Der Herr selbst sagte eines Tages zur heiligen Katharina von Siena: „Wisse, meine Tochter, daß eine Seele, die im demütigen Gebete verharrt, alle Tugenden erlangen wird.“

Es scheint mit hier ein geeigneter Ort zu sein, einige vortreffliche Lehren anzuführen, welche der fromme und gelehrte Palafox, Bischof von Osma, in seinen Anmerkungen zu den Briefen der heiligen Theresia allen Seelen gegeben hat, die ein geistliches Leben führen und nach Vollkommenheit streben. Die heilige Theresia legt in ihrem achtzehnten Briefe ihrem Beichtvater Rechenschaft ab über die verschiedenen Arten und Grade des übernatürlichen Gebetes, mit welchen der Herr sie begnadigt hatte. Hierüber bemerkt der Bischof, daß alle diese übernatürlichen Gaben, welche Gott der heiligen Theresia und auch anderen Heiligen zu verleihen sich gewürdigt hat, nicht notwendig seien, um zur Heiligkeit zu gelangen, da sehr viele Seelen ohne dieselben heilig wurden, und andererseits viele, die sie empfingen, zuletzt zugrunde gingen. Er sagt daher, es sei nicht bloß überflüssig, sondern sogar vermessen, solche außerordentlichen Gaben zu wünschen und von Gott zu begehren; denn der wahre und einzige Weg, um heilig zu werden, bestehe darin, sich in den Tugenden zu üben und sich zu bestreben, Gott über alles zu lieben; und dies erreiche man durch das Gebet und durch die treue Mitwirkung mit den Erleuchtungen und Gnaden, die der Herr uns verleiht, der uns alle heilig sehen will: „Denn das ist der Wille Gottes: eure Heiligung“ (1 Thess 4,3). Hierauf spricht der Bischof im einzelnen von den Arten und Stufen des übernatürlichen Gebetes, welche die heilige Theresia in ihrem Briefe berührt: nämlich von dem Gebete der Ruhe, des geistlichen Schlafes und der Gebundenheit aller Seelenkräfte, der Vereinigung, der Ekstase, der Verzückung, des Fluges und des gewaltsamen Aufschwunges, und der geistlichen Wunde, und macht hierzu folgende weise und treffende Bemerkungen. Hinsichtlich des Gebetes der Ruhe sollen unsere Wünsche und Bitten die sein, daß Gott uns befreien wolle von der Anhänglichkeit an die irdischen Güter und von aller Begierde nach diesen Gütern, die keinen Frieden bringen, sondern nur Unruhe und Plage. „Eitelkeit und nichts als Eitelkeit und Plage des Geistes“, sagt der Prediger (Koh 1,14). Das Herz des Menschen wird niemals wahren Frieden finden, wenn es sich nicht von allem entleert, was nicht Gott ist, um Raum zu geben der heiligen Liebe, damit Gott allein es erfülle und besitze. Dies kann jedoch die Seele aus sich selbst nicht zustande bringen, sondern nur durch unablässiges und inständiges Gebet von Gott erlangen. Was den geistlichen Schlaf und die Gebundenheit aller Seelenkräfte betrifft, so sollen wir Gott bitten, daß sie für alle Dinge dieser Welt schlafen und nur wachen mögen, um die unendliche Güte Gottes zu betrachten und nach der göttlichen Liebe und den ewigen Gütern zu streben. Um zur wahren Vereinigung zu gelangen, sollen wir Gott um die Gnade bitten, an nichts zu denken, nichts zu suchen und nichts zu wollen, als was Er will, weil alle Heiligkeit und alle vollkommene Liebe in der Vereinigung unseres Willens mit dem Willen Gottes besteht. Was die Ekstase und die Verzückung betrifft, so sollen wir Gott bitten, Er möge uns aus uns selbst hinausführen, indem Er uns von den Banden der Eigenliebe und der ungeordneten Liebe zu den Geschöpfen befreit, um unsere Herzen ganz an sich zu ziehen. Den geistlichen Flug sollen wir in dem Sinne verlangen, daß wir Gott um die Gnade bitten, von dieser Welt ganz losgeschält zu sein, und es wie die Schwalben zu machen, die ihre Nahrung im Fluge erhaschen, ohne sich deshalb auf die Erde niederzulassen, das heißt: wir sollen Gott um die Gnade bitten, daß wir uns der zeitlichen Güter nur insoweit bedienen, als sie uns zu unserem Lebensunterhalte notwendig sind, aber immer nur im Fluge, ohne uns auf dem Boden dieser Welt aufzuhalten, um die Freuden der Welt zu genießen. Um den gewaltsamen Aufschwung des Geistes sollen wir Gott in der Art bitten, daß Er uns Mut und Kraft verleihen wolle, uns Gewalt anzutun, wenn es notwendig ist, um den Angriffen unserer Feinde zu widerstehen, unsere Leidenschaften zu überwinden , und alle Leiden und Trübsale, die uns der Herr zuschickt, selbst in der größten Trockenheit und Trostlosigkeit des Geistes willig und geduldig zu ertragen. Gleichwie endlich, was die geistliche Wunde betrifft, der Schmerz, den uns eine körperliche Wunde verursacht, uns unablässig an sie erinnert, so sollen wir Gott bitten, Er möge unsere Herzen dergestalt mit seiner heiligen Liebe verwunden, daß wir unablässig seiner unendlichen Güte und der Liebe, die Er zu uns trägt, gedenken, und so unser ganzes Leben in seiner Liebe verharren, und uns durch alle unsere Gedanken, Gefühle und Werke sein heiligstes Wohlgefallen erwerben. Diese Gnade kann man ohne das Gebet nicht erlangen, durch das Gebet aber, wenn es demütig, vertrauend und beharrlich ist, erreicht man alles.

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§ 2: Von dem Vertrauen, mit welchem wir beten müssen

Der heilige Apostel Jakobus ermahnt uns vor allem, wenn wir durch unser Gebet Gnaden von Gott erlangen wollen, zu beten mit festem Vertrauen und mit der Zuversicht, daß wir Erhörung finden werden: „Er bitte aber im Glauben, ohne zu schwanken“ (Jak 1,6). Der heilige Thomas lehrt, daß das Gebet durch die Liebe verdienstlich werde, seine Wirksamkeit aber durch den Glauben und das Vertrauen erlange: „Das Gebet hat seine Kraft, zu verdienen, von der Liebe, den Erfolg der Erhörung aber von dem Glauben und dem Vertrauen“ (II II, 83,2). Ebenso lehrt auch der heilige Bernhard, daß es das Vertrauen sei, welches die göttlichen Erbarmungen auf uns herabzieht: „Die Hoffnung allein erwirkt uns deine Erbarmungen, o Herr“ (Serm. 3. de Annunc.). Der Herr hat ein großes Wohlgefallen an unserem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit, weil wir dadurch die unendliche Güte ehren und preisen, die Er durch unsere Erschaffung offenbaren wollte. Der königliche Prophet fordert alle auf, die dem Herrn vertrauen, sich zu erfreuen, weil sie zur ewigen Freude und Seligkeit gelangen werden: „Freuen sollen sich, die auf Dich hoffen, sie werden ewig frohlocken, und Du wirst in ihnen wohnen“ (Ps 5,12.). Gott beschützt und errettet aus allen Gefahren, die auf Ihn vertrauen. „Er ist der Beschützer aller, die auf Ihn hoffen.“(Ps 17,31) „Du rettest alle, die auf Dich hoffen“ (Ps 16,7). O welche großen Verheißungen werden in der Heiligen Schrift denjenigen gegeben, die auf den Herrn vertrauen! „Alle, die auf Ihn hoffen, werden nicht sündigen.“ (Ps 33,23.) Sie werden nicht sündigen, weil Gott, wie es in einem anderen Psalm heißt, seine Augen auf sie gerichtet hat, um sie durch den Beistand seiner Gnade vor dem Tode der Sünde zu bewahren: „Siehe, die Augen des Herrn blicken auf diejenigen, die Ihn fürchten, und die auf seine Barmherzigkeit hoffen, daß Er ihre Seelen von dem Tode errette“ (Ps 32,18). Der Herr selbst spricht durch den Mund des Propheten: „Weil er auf mich gehofft hat, so will ich ihn befreien, ihn beschützen... ihn den Gefahren entreißen und ihn verherrlichen“ (Ps 90,14). Hierbei ist vorzüglich das Wort „weil“ zu bemerken: weil er auf mich gehofft hat, will ich ihn beschützen, ihn von seinen Feinden befreien, ihn der Gefahr des Falles entreißen, und ihm endlich die ewige Herrlichkeit verleihen. Und Isaias sagt: „Die aber auf den Herrn hoffen, werden neue Kräfte erlangen, sie werden Flügel bekommen wie die Adler; sie werden laufen, ohne zu ermüden, sie werden wandeln und nicht schwach werden“ (ls 40,31). Sie werden aufhören, schwach zu sein, und eine große Stärke in Gott erlangen, sie werden nicht ermatten, ja nicht einmal eine Müdigkeit empfinden, wenn sie den Weg des Heils wandeln, sondern laufen und fliegen wie die Adler. „Im Schweigen und im Hoffen ist eure Stärke“, sagt derselbe Prophet (ls 30,15). Alle unsere Stärke besteht darin, daß wir unser ganzes Vertrauen auf Gott setzen, und dabei schweigen, dies heißt: daß wir in dem Schoße der göttlichen Barmherzigkeit unsere Ruhe finden, ohne uns auf unsere eigene Tätigkeit und auf menschliche Mittel und Stützen zu verlassen.

Wann hat es sich je ereignet, daß jemand auf Gott vertraut hätte und zugrunde gegangen wäre? „Keiner hat auf den Herrn gehofft und ist zuschanden geworden“ (Sir 2,11). Aus diesem Vertrauen schöpfte David die Zuversicht, daß er nicht ewig zugrunde gehen werde. „Auf Dich, o Herr, habe ich gehofft, ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden“ (Ps 30,1). Will Gott vielleicht unser spotten, sagt der heilige Augustinus, und bietet Er sich an, unsere Stütze zu sein, um sich uns zu entziehen, wenn wir uns auf Ihn stützen wollen? Der Psalmist preist denjenigen selig, der auf den Herrn vertraut: „Selig der Mensch, der auf Dich hofft“ (Ps 83,12). Den Grund aber gibt er in einem anderen Psalm an: „Wer auf den Herrn hofft, den wird die Barmherzigkeit umgeben“ (Ps 31,10). Die göttliche Gnade und Barmherzigkeit wird demjenigen, der auf sie vertraut, von allen Seiten wie mit einem Walle umgeben, so daß er gegen alle Angriffe seiner Feinde geschützt und gegen die Gefahr des ewigen Untergangs gesichert sein wird.

Deshalb empfiehlt uns der Apostel so sehr, das Vertrauen auf Gott zu bewahren, weil wir ganz gewiß dafür einen großen Lohn zu erwarten haben: „Verliert also euer Vertrauen nicht, das eine große Belohnung hat“ (Hebr 10,35). Das Maß der Gnaden, die wir von Gott empfangen, richtet sich nach dem Maße unseres Vertrauens. „Ein großes Vertrauen verdient Großes.“ Die göttliche Barmherzigkeit, sagt der heilige Bernhard, ist ein Brunnen von unergründlicher Tiefe, und wir schöpfen daraus mit den Gefäßen des Vertrauens: wer mit einem größeren Gefäße kommt, wird auch eine größere Menge von Gnaden daraus schöpfen: „Du gießest, o Herr, das Öl deiner Barmherzigkeit nur in die Gefäße des Vertrauens“ (Serm. 3. de Annunc.). Er sagt damit nur, was schon der königliche Prophet ausgesprochen hat: „Deine Barmherzigkeit, Herr, sei über uns, so wie wir auf Dich gehofft haben“ (Ps 32,23). Eine treue Erfüllung dieses Ausspruchs sehen wir an dem Hauptmanne im Evangelium, zu dem der Herr, nachdem Er seinen Glauben und sein festes Vertrauen vor allen Umstehenden gerühmt hatte, die Worte sprach: „Gehe hin, und wie du geglaubt hast, so soll dir geschehen“ (Mt 8,13). Und zur heiligen Gertrud sagte der Herr, daß mit Vertrauen Betende Ihm eine solche Gewalt antun, daß Er gleichsam genötigt werde, sie zu erhören und ihnen alles zu gewähren, was sie von Ihm verlangen. Durch das Gebet tun wir dem Herrn Gewalt an, aber eine Gewalt, die Ihm lieb und wohlgefällig ist, sagt der heilige Johannes Climacus.

„Laßt uns also mit Zuversicht hinzutreten zum Throne der Gnade, damit wir Barmherzigkeit erlangen, und Gnade finden, wenn wir Hilfe nötig haben“ (Hebr 4,16). Dieser Thron der Gnade ist Jesus Christus, der jetzt zur Rechten des Vaters sitzt, nicht auf einem Throne der Gerechtigkeit, sondern auf einem Throne der Barmherzigkeit, um denen, welche die göttliche Gnade durch die Sünde verloren haben, Verzeihung, und denen, die sie bewahrt haben, die Beharrlichkeit zu erwirken. Zu diesem Throne müssen wir unablässig und mit Zuversicht unsere Zuflucht nehmen, das heißt: mit jenem Vertrauen, welches uns der Glaube gibt, daß Gott unendlich gütig und getreu ist, und daher nach seiner Verheißung alle erhören werde, die mit Vertrauen, jedoch mit einem festen und unerschütterlichen Vertrauen, Ihn um Gnaden bitten. Wer dagegen mit einem schwankenden Vertrauen betet, soll nicht glauben, daß er etwas erlangen werde, wie der heilige Jakobus bezeugt: „Denn wer schwankt, gleicht den Fluten des Meeres, die vom Winde bewegt umhergetrieben werden; ein solcher Mensch denke also nicht, daß er etwas von dem Herrn empfangen werde“ (Jak 1,7). Er wird nichts erhalten, denn das schuldbare Schwanken zwischen Vertrauen und Mißtrauen wird die göttliche Bannherzigkeit verhindern, seine Bitten zu erhören. „Du hast nicht recht gebetet, denn du hast zweifelnd gebetet“, sagt der heilige Basilius (Const. mon. cap. 1). Du hast die Gnade nicht empfangen, die du begehrtest, weil du ohne Vertrauen darum gebeten hast. Der königliche Prophet sagt, daß unser Vertrauen so unerschütterlich sein solle wie ein Berg, welcher der Gewalt aller Stürme widersteht: „Wer auf den Herrn vertraut, ist wie der Berg Sion, er wankt nicht in Ewigkeit“ (Ps 124). Zu diesem Vertrauen, wenn wir die Gnaden erlangen wollen, die wir von Gott begehren, ermahnt uns der Herr selbst, da Er spricht: „Was ihr immer im Gebete begehren mögt, glaubt nur, daß ihr es erhalten werdet, und es wird euch werden“ (Mk 11,24).

Worauf soll aber ich Armseliger, wird vielleicht mancher sagen, dieses zuversichtliche Vertrauen gründen, alles zu erlangen, um was ich Gott bitten werde? Worauf? Auf die Verheißung des Herrn: „Bittet, und ihr werdet empfangen“ (Joh 16,24). „Wer darf fürchten, getäuscht zu werden, wenn die Wahrheit verspricht“, sagt der heilige Augustinus. Wie können wir zweifeln, Erhörung zu finden, wenn Gott, der die Wahrheit selbst ist, verheißt, uns alles zu gewähren, um was wir Ihn bitten werden? „Er würde uns nicht ermahnen, Ihn um Gnaden zu bitten, wenn Er nicht geben wollte“, sagt derselbe Heilige (De verb. Dom. serm.). Dies ist es aber, wozu uns der Herr so dringend ermahnt, und was Er in der Heiligen Schrift so oft wiederholt: „Betet“, „bittet“, „sucht“ etc. und ihr werdet alles erlangen, was ihr wünscht: „Was ihr immer wollt, bittet, und es wird euch geschehen“ (Joh 15,7). Und damit wir Ihn mit dem rechten Vertrauen bitten mögen, hat uns der Heiland, als Er uns das Vater Unser lehrte, angewiesen, Gott nicht unseren Herrn zu nennen, wenn wir die zu unserem Heile notwendigen Gnaden (die alle im Vater Unser ausgedrückt sind) von Ihm verlangen, sondern unseren Vater, weil Er wollte, daß wir diese Gnaden mit demselben Vertrauen von Ihm begehren sollen, mit welchem ein armer oder kranker Sohn von seinem leiblichen Vater Nahrung oder Arznei begehrt. Wenn ein Sohn sich in solcher Not befinden sollte, daß er nahe daran ist, vor Hunger zu sterben, so wird es hinreichen, daß er seine Not dem Vater offenbare, und dieser wird ihn sogleich mit dem Nötigen versehen, und wenn den Sohn eine giftige Schlange gebissen hätte, so wird er seine Wunde dem Vater nur zeigen dürfen, damit dieser sogleich die Gegenmittel, die er bereithält, zur Heilung seines Sohnes anwende.

Beten und bitten wir also, auf die göttlichen Verheißungen gestützt, nicht mit einem schwankenden, sondern mit einem festen und unerschütterlichen Vertrauen, wie uns der Apostel lehrt: „Lasset uns unwandelbar festhalten an dem Bekenntnisse unserer Hoffnung; denn getreu ist, der uns die Verheißung gegeben hat“ (Hebr 10,23). Mit derselben Gewißheit und Sicherheit, mit welcher wir glauben, daß Gott getreu in seinen Verheißungen ist, müssen wir auch vertrauen, daß Er unsere Gebete erhören werde. Und wenn wir uns auch manchmal im Zustand geistlicher Trockenheit befinden, oder wegen eines begangenen Fehlers beunruhigt sind, und deshalb kein solches fühlbares Vertrauen haben, wie wir es zu haben wünschten: sollen wir uns doch Gewalt antun, um zu beten, und nicht ablassen zu beten, denn Gott wird nicht unterlassen, uns zu erhören. Ja Er wird uns dann noch eher erhören, weil wir dann mit größerem Mißtrauen auf uns selbst und mit größerem Vertrauen auf seine Güte und auf seine Treue beten werden. O wie wohlgefällig ist es Gott, wenn wir in Trübsalen, Beängstigungen und Versuchungen hoffen wider die Hoffnung, das heißt: wenn wir trotz des Gefühles von Kleinmut und der Zweifel an der Erhörung unseres Gebetes, die uns in diesem Zustande der Trostlosigkeit aufsteigen, dennoch auf Ihn hoffen und vertrauen. Dieses Vertrauen hebt der Apostel rühmend an dem heiligen Erzvater Abraham hervor, da er von ihm sagt: „Der wider die Hoffnung an die Hoffnung geglaubt hat“ (Röm 4,18).

Der heilige Johannes versichert uns, daß alle, die ein festes Vertrauen auf Gott setzen, sich gewiß heiligen werden. „Und jeder, der die Hoffnung auf Ihn setzt, der heiligt sich, gleichwie auch Er heilig ist“ (1 Joh 3,3). Denn Gott gießt die Fülle seiner Gnaden über diejenigen aus, die auf Ihn hoffen. Mit diesem Vertrauen haben so viele Märtyrer, selbst Jungfrauen und Knaben im zartesten Alter, trotz des Schreckens vor den Martern, welche ihnen die Tyrannen bereiteten, die Marter und die Tyrannen überwunden. Manchmal, wenn wir beten, kommt es uns vor, daß Gott uns nicht erhören wolle, aber lassen wir deshalb nicht ab, zu beten und zu hoffen, harren wir aus, und sprechen wir dann mit Job: „Wenn Er mich auch töten sollte, will ich doch auf Ihn hoffen“ (Job 3,15). Wenn Du mich auch, o Herr, von deinem Angesichte verstoßen solltest, so will ich dennoch nicht aufhören, Dich zu bitten und auf deine Barmherzigkeit zu hoffen. Wenn wir auf diese Weise beten, werden wir alles von Gott erlangen, gleichwie das kananäische Weib auf diese Weise alles erlangte, was sie begehrte. Dieses Weib bat den Herrn inständig, Er möge ihre Tochter von dem bösen Geist befreien: „Erbarme Dich meiner, Herr, Sohn Davids, meine Tochter wird übel von einem bösen Geiste geplagt“ (Mt 15,22). Allein der Herr antwortete ihr nicht, und als die Jünger für sie baten, sagte Er ihnen, Er sei nicht zu den Heiden, sondern zu den Kindern des Hauses Israel gesendet. Das Weib aber ließ sich dadurch nicht abschrecken, sondern warf sich vor Ihm nieder und sprach mit festem Vertrauen: „Herr, hilf mir!“ Nun antwortete ihr der Herr, aber nur, um sie von neuem abzuweisen: „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“ Das Weib aber entgegnete: „Doch, Herr, denn auch die Hündlein essen von den Brosamen, die von dem Tische ihrer Herren fallen.“ Als nun der Herr ihre Beharrlichkeit sah, rühmte Er ihr großes Vertrauen und gewährte ihr die Gnade, die sie verlangte: „O Weib, dein Glaube ist groß, dir geschehe, wie du willst.“ Wer hat wohl jemals Gott um Hilfe angerufen, sagt der Siracide, und Gott hätte sein Gebet nicht angesehen, und ihn ohne Hilfe gelassen? „Wer hat Ihn angerufen, und Er hätte ihn nicht angesehen?“ (Sir 2,12)

Der heilige Augustinus nennt das Gebet einen Schlüssel, der uns, und zwar in dem Augenblicke, wo wir beten, die himmlischen Gnadenschätze eröffnet: „Das Gebet des Gerechten ist ein Himmelsschlüssel, das Gebet steigt hinauf, und die göttliche Erbarmung steigt herab“ (Serrn. 3 16. de temp.). „Gebenedeit sei Gott, der mein Gebet und seine Barmherzigkeit nicht von mir entfernt hat“ (Ps 65,20), sagt der königliche Prophet und belehrt uns dadurch, daß unsere Bitten und die göttliche Barmherzigkeit sich allezeit begegnen. Der ebengenannte heilige Kirchenlehrer aber sagt über diese Worte: „Wenn du also siehst, daß dein Gebet nicht von dir gewichen ist, so kannst du sicher sein, daß seine Barmherzigkeit nicht von dir gewichen ist“ (In Psalm 65). Was mich selbst betrifft, so muß ich in Wahrheit bekennen, daß ich mich niemals mehr im Geiste getröstet und in dem Vertrauen, selig zu werden, gestärkt fühle, als wenn ich bete und mich der göttlichen Barmherzigkeit empfehle. Ich glaube aber, daß alle Gläubigen diese Erfahrung gemacht haben; denn alle anderen Zeichen unserer Auserwählung sind ungewiß und trüglich, daß aber Gott jeden erhöre, der mit Vertrauen zu Ihm betet, ist eine ebenso gewisse und untrügliche Wahrheit, als es gewiß und untrüglich ist, daß Gott seinen Verheißungen nicht untreu werden könne.

Wenn wir also erkennen, daß wir zu schwach und unvermögend sind, irgend eine Leidenschaft zu beherrschen, oder eine große Schwierigkeit zu überwinden, die sich der Ausführung dessen, was Gott von uns verlangt, entgegenstellt, sollen wir mutig mit dem Apostel ausrufen: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt“ (Phil 4,15), nicht aber wie manche sprechen: Ich kann nicht; ich traue mir nicht die Kräfte zu. Wir vermögen allerdings nichts mit unseren eigenen Kräften, aber mit dem Beistand Gottes vermögen wir alles. Wenn Gott zu jemandem sagen würde: Nimm diesen Berg auf deine Schultern und trage ihn fort, denn ich will dir beistehen, so könnte nur ein Tor oder ein Ungläubiger antworten: Ich will ihn nicht auf mich nehmen, denn ich habe nicht die Kraft, ihn zu tragen. Und so müssen auch wir den Mut nicht verlieren, wenn wir unser Elend und unsere Schwäche erkennen und zuweilen heftiger von Versuchungen überfallen werden, sondern unsere Augen zu Gott erheben und mit David ausrufen: „Der Herr ist mein Helfer, ich werde meine Feinde für nichts achten“ (Ps 117,6). Mit dem Beistand des Herrn werde ich siegen, die Angriffe meiner Feinde zurückschlagen, und sie werden mit ihren Anschlägen zuschanden werden. Und wenn wir in Gefahr, Gott zu beleidigen, oder in einer wichtigen Angelegenheit ratlos sind, und nicht wissen, was wir tun sollen, rufen wir den Herrn an und sprechen wir: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil: wen soll ich fürchten?“ (Ps 26,1.) Wir können dann versichert sein, daß Gott uns erleuchten und leiten und alles Unheil von uns abwenden wird.

Aber ich bin ein Sünder, wird vielleicht mancher sagen, und ich sehe in der Heiligen Schrift: „Gott hört die Sünder nicht“ (Joh 9,31). Hierauf erwidert der heilige Thomas mit dem heiligen Augustinus: „Diese Worte sind die Worte des Blindgeborenen, der damals noch nicht genügend erleuchtet war, sie haben daher keine Gültigkeit“ (II II, 83,16, ad 1). Ferner sagt der englische Lehrer, daß diese Worte dessenungeachtet in einem gewissen Sinne eine Wahrheit in sich enthalten, wenn nämlich der Sünder um etwas bittet, „insoweit er ein Sünder ist“, das heißt: wenn er aus dem Grunde und in der Absicht betet, weil er fortsündigen will, wenn z. B. einer Gott um seinen Beistand bitten wollte, um an seinem Feinde sich zu rächen, oder einen anderen sündhaften Plan auszuführen. Dasselbe gilt von jenen Sündern, die Gott um ihr ewiges Heil bitten, aber nicht das mindeste Verlangen haben, aus dem Zustande der Sünde herauszukommen. Es gibt Unglückliche, welche die Fesseln lieben, mit welchen sie der böse Feind gebunden hat und in seiner Dienstbarkeit erhält, und die Gebete solcher Sünder erhört Gott nicht, weil es vermessene und frevelhafte Gebete sind. Wäre es nicht die größte Vermessenheit, wenn jemand seinen Fürsten nicht nur öfters schwer beleidigt, sondern auch die Absicht hätte, ihn noch fernerhin zu beleidigen, und es dennoch wagen wollte, vor ihn hinzutreten und ihn um Gnaden zu bitten? In diesem Sinne ist der Ausspruch des Heiligen Geistes zu verstehen, daß das Gebet desjenigen, der absichtlich nicht hören will, was Gott ihm befiehlt, dem Herrn verhaßt und ein Greuel sei: „Wer seine Ohren abwendet, daß er das Gesetz nicht höre, dessen Gebet wird ein Greuel sein“ (Spr 28,9). Zu diesen spricht der Herr: Ihr mögt beten, wie ihr wollt: eure Gebete sind vergeblich; denn ich werde euch nicht erhören: „Und wenn ihr auch die Hände nach mir ausstreckt, so werde ich doch meine Augen von euch abwenden, und wenn ihr auch eure Gebete vervielfältigt, werde ich euch doch nicht erhören“ (ls 1,15). Von dieser Art war das Gebet des gottlosen Königs Antiochus, der zu Gott betete und große Dinge versprach, aber heuchlerischerweise und mit einem verhärteten Herzen; denn er betete nur, um den Züchtigungen zu entgehen, die ihm bevorstanden: und darum erhörte der Herr sein Gebet nicht, sondern ließ ihn, von den Würmern verzehrt, eines elenden Todes sterben. „Dieser Bösewicht betete zu dem Herrn, allein er konnte keine Barmherzigkeit erlangen“ (2 Makk 9,13).

Andere sündigen nur aus Schwachheit, oder wenn sie von dem Drange einer heftigen Leidenschaft überwältigt werden; sie seufzen aber unter dem Joche ihres Tyrannen, sie wünschen sehnlichst, ihre Ketten zu zerbrechen und dieser elenden Knechtschaft zu entgehen, und bitten deshalb Gott um seinen Beistand: und das Gebet solcher Sünder, wenn es beharrlich ist, findet ganz gewiß Erhörung vor demjenigen, der gesagt hat: Jeder, der bittet, empfängt, und wer sucht, der findet“ (Mt 7,8). Jeder, also der Gerechte, wie der Sünder“, fügt der Verfasser des sogenannten unvollkommenen Werkes hinzu (Hom. 56). Und im Evangelium des heiligen Lukas, wo der Herr das Gleichnis von dem Manne erzählt, der bei Nacht die Brote seinem zudringlichen Freunde gab, spricht Er: „Ich sage euch, wenn er ihm auch nicht die Brote deshalb gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines Ungestümes aufstehen und ihm geben, so viel er nötig hat. Und so sage auch ich euch: Bittet, so wird euch gegeben werden“ (Lk 11,8). So erlangen also durch das beharrliche Gebet selbst diejenigen Gnade und Barmherzigkeit vor Gott, die nicht seine Freunde sind. „Was die Freundschaft nicht zustande brachte, hat das Gebet zustande gebracht“, sagt der heilige Johannes Chrysostomus. Ja, er sagt sogar: „Mehr vermag bei Gott das Gebet als die Freundschaft“ (Hom. 56). In demselben Sinne spricht sich der heilige Basilius aus: „Die Sünder erlangen, was sie begehren, wenn sie beharrlich darum bitten“ (Const. monast. cap.). Dasselbe sagt der heilige Gregorius: „Auch der Sünder rufe zu Gott, und sein Gebet wird zu Gott gelangen“ (In Ps 6. poenit.). Ebenso sagt der heilige Hieronymus (Epist. ad Damas. de filio prod.), daß auch der Sünder Gott seinen Vater nennen dürfe, wenn er Gott bittet, Er wolle ihn wieder zu seinem Kinde annehmen, gleichwie auch der verlorene Sohn sprach: „Vater, ich habe gesündigt“, obgleich er noch nicht Verzeihung erlangt hatte. Wenn Gott die Sünder nicht erhören würde, sagt der heilige Augustinus, so müßte ja auch das Gebet des Zöllners fruchtlos geblieben sein: „Wenn Gott die Sünder nicht erhört, so hat der Zöllner vergeblich gesprochen: 'Herr, sei mir Sünder gnädig‘“ (Tract. 24 in Joan.). Allein das Evangelium bezeugt, daß er durch sein Gebet die Verzeihung seiner Sünden erlangte: „Dieser ging gerechtfertigt nach Hause“ (Lk 18,14).

Am ausführlichsten hat jedoch der heilige Thomas diese Frage behandelt, und der englische Lehrer nimmt keinen Anstand zu behaupten, daß auch der Sünder erhört werde, wenn er bittet; denn wiewohl sein Gebet nicht verdienstlich ist, so hat es doch die Kraft, die Gewährung der Bitte zu erwirken, weil die Erhörung nicht auf der Gerechtigkeit, sondern auf der Güte Gottes beruht. „Das Verdienst gründet sich auf die Gerechtigkeit, die Erhörung aber gründet sich auf die Gnade“ (II II, 83,16). Ganz in diesem Sinne betete Daniel: „Neige dein Ohr, mein Gott, und höre.... denn nicht auf unsere Rechtfertigung, sondern auf deine großen Erbarmungen vertrauend schütten wir unsere Gebete aus vor deinem Angesichte“ (Dan 9,18). Wenn wir also beten, sagt der heilige Thomas, so ist es nicht notwendig, um die Gnaden, die wir begehren, zu erlangen, daß wir Freunde Gottes seien, denn wir werden es eben durch das Gebet. „Das Gebet selbst macht uns zu Freunden Gottes.“ Der heilige Bernhard gibt noch einen anderen schönen und treffenden Grund an. Er sagt, das Gebet des Sünders um Befreiung aus dem Stande der Sünde entstehe aus dem Verlangen, in die Gnade Gottes zurückzukehren; allein eben dadurch, daß Gott dem Sünder dieses Verlangen einflößt, zeige Er, daß Er ihn erhören wolle: „Wozu würde Er ihm dieses Verlangen geben, wenn Er ihn nicht erhören wollte.“ Und wir lesen in den Heiligen Schriften so viele Beispiele von Sündern, die durch das Gebet Gnade und Verzeihung erlangten. So der König Manasses; (2 Chr 33,13), so der König Nabuchodonosor (Dan 4), so der gute Schächer (Lk 23,42). O wunderbare Kraft des Gebetes! Zwei Sünder sterben auf dem Kalvarienberge an der Seite des Heilands; der eine betet: „Gedenke meiner!“ und wird gerettet, der andere, weil er nicht betet, geht zugrunde.

Mit einem Worte: Kein reumütiger Sünder bleibt unerhört, wie der heilige Johannes Chrysostomus bezeugt: „Keiner hat je mit reumütigem Herzen um Wohltaten gebeten, der nicht erlangt hätte, was er begehrte“ (Homil. de Moys.). Indessen bedürfen wir weiter keiner Gründe und menschlichen Autoritäten, da der Herr selbst im Evangelium sagt: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig seid und beladen, und ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). Unter den Beladenen verstehen der heilige Hieronymus, der heilige Augustinus und andere die Sünder, welche unter der Last ihrer Sünden seufzen, wenn sie aber zu Gott ihre Zuflucht nehmen, vom Herrn nach seiner Verheißung gütig aufgenommen und durch seine Gnade neubelebt und gerettet werden. „Du wünschst nicht so sehr die Nachlassung deiner Sünden als Gott wünscht, sie dir nachzulassen“, sagt der heilige Johannes Chrysostomus. Und er fügt hinzu, daß es keine Gnade gebe, die nicht auch der größte Sünder durch beharrliches Gebet erlangen könnte. „Es gibt nichts, was das Gebet nicht erreiche, und hättest du dich auch mit tausend Sünden beladen, wenn nur dein Gebet eifrig und beständig ist.“ (Hom. 33. in Matth.). Und wenn wir zu der Heiligen Schrift zurückkehren, so finden wir diese Wahrheit durch einen Ausspruch des heiligen Jakobus bestätigt: „Wenn jemand aus euch der Weisheit bedarf, so begehre er sie von Gott, welcher allen reichlich und ohne harte Worte gibt.“ (Jak 1,5). Alle also, die im Gebete zu Gott ihre Zuflucht nehmen, werden von Ihm erhört, und mit Gnaden überhäuft: „Welcher allen reichlich gibt.“ Ganz besonders aber sind die darauffolgenden Worte „und es nicht vorwirft“ zu bemerken, womit uns der Apostel belehren will, daß Gott nicht verfahre, wie die Menschen zu verfahren pflegen. Wenn uns jemand um eine Gunst bittet, der uns früher bei irgend einer Gelegenheit beleidigt hat, so werfen wir ihm sogleich die Unbilde vor, die er uns angetan hat. So verfährt Gott nicht mit denjenigen, die zu Ihm ihre Zuflucht nehmen. Sollte es auch der größte Sünder sein, den der Erdboden trägt, wenn er um eine seinem ewigen Heile zuträgliche Gnade bittet, so kann er versichert sein, daß Gott ihm seine Sünden nicht vorwerfen, sondern, wie wenn Er nicht beleidigt worden wäre, ihn gütig aufnehmen, trösten, erhören und mit seinen Gnaden bereichern wird. Eben um uns Mut zu machen und zum Gebete zu ermuntern, spricht der Herr: „Wahrlich, wahrlich sage ich euch, wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bitten werdet, so wird Er es euch geben“ (Joh 16,23). Es ist, als ob Er sagen würde: Wohlan ihr Sünder, laßt den Mut nicht sinken, und laßt euch durch eure Sünden nicht abhalten, eure Zuflucht zu meinem Vater zu nehmen und euer ewiges Heil von Ihm zu hoffen, wenn ihr darnach ein Verlangen tragt. Ihr habt keine Verdienste, die euch der Gnaden, die ihr begehrt, würdig machen; ihr verdient vielmehr Strafe und Züchtigung für eure Verschuldungen; aber ich will euch lehren, was ihr zu tun habt. Tretet in meinem Namen vor den Vater hin, und bittet Ihn durch meine Verdienste um die Gnaden, die ihr wünscht, und ich verspreche und beteuere euch (die Worte „wahrlich, wahrlich sage ich euch“ drücken, wie der heilige Augustinus sagt, eine Art von Schwur aus), daß mein Vater euch alles gewähren wird, was ihr verlangen werdet. Kann es wohl für einen Sünder, der sich in das Verderben gestürzt hat, einen größeren Trost geben, als den, zu wissen und sicher zu sein, daß er alles erlangen werde, um was er Gott im Namen Jesu Christi bitten wird?

Wenn ich sage „alles“, so ist darunter alles zu verstehen, was sich auf unser ewiges Heil bezieht; denn die zeitlichen Güter, wie schon oben bemerkt wurde, gewährt uns Gott manchmal nicht, wenn wir auch darum bitten, weil Er voraussieht, daß sie unserer Seele schädlich sein würden. Was aber die geistlichen Güter betrifft, so ist die göttliche Verheißung unbeschränkt und an keine Bedingung geknüpft, und deshalb ermahnt uns der heilige Augustinus, um Dinge, die uns Gott unbedingt versprochen hat, mit unbedingtem Vertrauen zu bitten: „Was Gott versprochen hat, begehrt mit Zuversicht“ (Glossa ex Aug. ad 2. Cor. 13). Fürchte nicht, sagt der Heilige, daß der Herr dir etwas verweigern werde, was du mit Vertrauen von Ihm begehrst: „Denn Er hat ein größeres Verlangen, dir Wohltaten zu erweisen, als du, sie zu empfangen.“

Nur dann, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, ziehen wir uns den Unwillen Gottes zu, wenn wir es unterlassen, Ihn um Gnaden zu bitten. „Er zürnt nur, wenn wir nichts begehren.“ Wie könnte es auch geschehen, daß Gott eine Seele nicht erhören wollte, die Ihn um Dinge bittet, an denen Er selbst das größte Wohlgefallen hat? Wenn eine Seele zu Ihm spricht: Herr, ich bitte Dich nicht um irdische Güter, nicht um die Reichtümer, Freuden und Ehren dieser Welt, ich bitte Dich einzig und allein um deine Gnade: befreie mich von der Sünde, verleihe mir einen seligen Tod, laß mich zu Dir in den Himmel kommen, gib mir deine heilige Liebe (und diese Gnade sollen wir, wie der heilige Franz von Sales sagt, vor allen anderen von Gott begehren), gib mir eine vollkommene Ergebung in deinen heiligsten Willen: wie wäre es möglich, daß Gott solche Bitten nicht erhören wollte? Und welche Bitten, o Herr, sagt der heilige Augustinus, wirst du erhören, wenn nicht diejenigen, die ganz nach deinem Herzen sind? „Welche Bitten erhörst Du, wenn Du diese nicht erhörst?“ Nichts aber muß unser Vertrauen mehr beleben, wenn wir Gott um geistliche Gnaden bitten, als was der Herr selbst im Evangelium sagt: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisset, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel den guten Geist denen geben, die Ihn darum bitten“ (Lk 11,13). Wenn ihr, die ihr so eigennützig und so sehr von der Eigenliebe eingenommen seid, dennoch euren Kindern nichts verweigert, was sie von euch begehren: um wieviel mehr wird euer himmlischer Vater, der euch mehr als irgend ein irdischer Vater seine Kinder liebt, euch die geistlichen Güter gewähren, wenn ihr Ihn darum bittet.

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§ 3: Von der Beharrlichkeit im Gebete

Wir müssen also mit Demut und mit Vertrauen beten; allein dies ist noch nicht genügend, um die endliche Beharrlichkeit zu erlangen, von welcher zuletzt unser ewiges Heil abhängt. Wenn wir Gott um besondere Gnaden bitten, werden wir diese besonderen Gnaden erlangen, aber wenn wir nicht im Gebete ausharren, werden wir die endliche Beharrlichkeit nicht erlangen, die ein Zusammenfluß von vielen Gnaden ist, und deshalb vieles und bis zum Tode fortgesetztes Gebet erfordert. Die Gnade des ewigen Heiles ist keine einzelne Gnade, sondern eine Kette von Gnaden, die sich zuletzt alle mit der Gnade der endlichen Beharrlichkeit abschließen. Dieser Kette von Gnaden muß nun, sozusagen, eine andere Kette, eine Kette von Gebeten von unserer Seite entsprechen: wenn wir daher ablassen, zu beten, so zerreißen wir die Kette unserer Gebete und damit auch die Kette von Gnaden, die uns das ewige Heil erlangen sollen, und werden folglich unser Heil nicht wirken.

Es ist wahr, daß wir uns die Gnade der Beharrlichkeit nicht verdienen können, wie das Konzil von Trient lehrt: „Sie kann uns nicht anders zuteil werden als von demjenigen, der die Macht hat, den, welcher steht, so festzustellen, daß er beharrlich stehe“ (Sess. 6. cap. 13). Dessenungeachtet sagt der heilige Augustinus, daß die große Gabe der Beharrlichkeit auf gewisse Weise durch das Gebet verdient werden könne, dies heißt: daß wir sie erlangen können, wenn wir darum bitten: „Diese Gabe Gottes kann also auf flehentliche Weise verdient, dies heißt: durch flehentliches Bitten erlangt werden“ (De dono persev. cap. 6). Und Suarez fügt hinzu, daß, wer betet, diese Gnade unfehlbar erlangen und sein Heil wirken werde, jedoch wird hierzu, wie der heilige Thomas lehrt, ein beharrliches und beständiges Gebet erfordert: „Nach der Taufe ist dem Menschen ein beständiges Gebet notwendig, damit er in den Himmel eingehe“ (III, 32,5). Und der Herr selbst sagt im Evangelium: „Man muß allezeit beten und nicht ablassen“ (Lk 18,1).

„Wachet und betet allezeit, damit ihr würdig geachtet werdet, allem dem zu entgehen, was kommen wird, und zu bestehen vor dem Menschensohne“ (Lk 21,6). Dasselbe ist schon im Alten Bunde ausgesprochen: „Laß dich nicht hindern, allezeit zu beten“ (Sir 18,22). „Preise Gott zu aller Zeit und bitte Ihn, daß Er deine Wege leite“ (Tob 4,20). Deshalb ermahnte der Apostel seine Jünger so dringend, niemals vom Gebete abzulassen: „Betet ohne Unterlaß“ (1 Thess 5,17). „Verharrt und wachet im Gebete“ (Kol 4,2). „Ich will, daß die Männer an allen Orten beten“ (1 Tim 2,8). Der Herr will uns die Beharrlichkeit und das ewige Leben verleihen: aber, wie der heilige Nilus sagt, nur dann, wenn wir Ihn beharrlich darum bitten: Er will diese Wohltat dem im Gebete Verharrenden erweisen“ (De orat. cap. 32). Viele Sünder gelangen mit dem Beistand der Gnade dahin, sich zu bekehren und Verzeihung ihrer Sünden von Gott zu erhalten, weil sie es aber dann unterlassen, Gott um die Gnade der Beharrlichkeit zu bitten, fallen sie wieder in ihre Sünden zurück und verlieren alles.

Es genügt nicht, sagt Bellarmin, um die Gnade der Beharrlichkeit nur einmal oder nur zuweilen zu bitten, sondern wir müssen sie immerfort, alle Tage, bis zu unserem Tode von Gott begehren: „Sie muß alle Tage begehrt werden, damit sie alle Tage erlangt werde.“ Wer heute darum bittet, wird sie heute erlangen, wenn er aber morgen nicht mehr darum bittet, so wird er morgen fallen. Dies wollte nun der Herr uns lehren durch das Gleichnis von dem Manne, der seinem Freunde die verlangten Brote nicht geben wollte, und sie ihm erst gab, als dieser von ungestümen Bitten nicht abließ: „Wenn er auch nicht aufsteht und sie ihm gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines Ungestümes aufstehen und ihm geben, soviel er nötig hat“ (Lk 11,18). Wenn nun dieser Mann, sagt der heilige Augustinus, gegen seinen Willen, bloß um sich von der Zudringlichkeit seines Freundes zu befreien, ihm die verlangten Brote gibt: „um wieviel mehr wird der gütige Gott geben, der uns ermahnt, zu bitten, und dem es mißfällig ist, wenn wir nicht bitten.“ Um wieviel mehr wird Gott, der die unendliche Güte selbst ist und ein so großes Verlangen hat, uns seine Güter mitzuteilen, uns die Gnaden geben, um die wir Ihn bitten, um wieviel mehr wird Er sie uns geben, da Er uns selbst ermahnt, zu bitten, und es mißfällig aufnimmt, wenn wir es unterlassen. Der Herr will uns das ewige Heil und alle hierzu nötigen Gnaden verleihen, aber Er will auch, daß wir Ihn unablässig, eifrig, ja ungestüm darum bitten. „Gott will, daß wir bis zum Ungestüm im Gebete verharren“, sagt Cornelius a Lapide über den angeführten Text des Evangeliums. Uns ist es unerträglich, wenn zudringliche Leute uns belästigen; Gott aber erträgt uns nicht nur, wenn wir zudringlich sind, sondern Er will und wünscht es, daß wir Ihn mit Ungestüm um Gnaden bitten, besonders um die Gnade der Beharrlichkeit. „Der Herr“, sagt der heilige Gregorius, „will gerufen, Er will gezwungen, Er will durch einen gewissen Ungestüm besiegt werden. O heiliger Ungestüm, durch welchen Gott nicht beleidigt, sondern versöhnt wird!“ (Hom. 1. in Evang.)

Um also die Gnade der Beharrlichkeit zu erlangen, müssen wir uns unablässig der göttlichen Barmherzigkeit anempfehlen. Des Morgens, des Abends, bei der Betrachtung, bei der heiligen Messe, bei der heiligen Kommunion und zu allen Zeiten, besonders aber dürfen wir zur Zeit der Versuchung nicht müde werden, auszurufen: Herr, hilf mir, Herr, stehe mir bei, halte deine schützende Hand über mich, verlasse mich nicht, erbarme Dich meiner! Was kann es Leichteres geben, als sprechen: Herr hilf mir! Der Psalmist sagt: „Bei mir steht das Gebet zu dem Gotte meines Lebens“ (Ps 41,9.) und die Glosse fügt hinzu: „Mancher sagt: ich kann nicht fasten, ich kann nicht Almosen geben; wenn man ihm aber erwidert, bete; so kann er dies nicht einwenden.“ Er kann dies nicht einwenden, weil es jedem nicht nur möglich ist, zu beten, sondern auch mit gar keinen Schwierigkeiten verbunden ist; jedoch ist es notwendig, daß wir niemals ablassen, zu beten, und immerfort, sozusagen, Gott Gewalt antun, damit Er uns immerfort mit seiner Gnade beistehe. „Diese Gewalt ist Gott sehr angenehm“, sagt Tertullian; und der heilige Hieronymus: „Je eifriger und ungestümer das Gebet ist, desto mehr gefällt es Ihm“ (In Luc. 11).

„Selig der Mann, der mich hört, und täglich wacht vor meinen Türen“ (Spr 8,34). Selig, wer auf die Stimme des Herrn horcht, und unablässig im Gebete wacht vor der Pforte seiner Barmherzigkeit. Und Isaias sagt: „Selig alle, die den Herrn erwarten“ (ls 30,18). Selig alle, die bis zu ihrem Ende im Gebete verharren und ihr Heil von dem Herrn erwarten. Darum ermahnt uns der Herr im Evangelium zum Gebete mit den Worten: „Bittet, und ihr werdet empfangen, klopfet an, und es wird euch aufgetan werden“ (Lk 11,12). Es scheint, daß es genügt hätte, wenn der Herr gesagt hätte: „Bittet“, und daß es nicht notwendig war, noch beizufügen: „Suchet“ und: „Klopfet an“. Allein diese Worte stehen keineswegs müßig da, denn der Herr wollte uns damit belehren, daß wir es machen sollen wie die Armen, die betteln gehen, und wenn sie das verlangte Almosen nicht empfangen haben und abgewiesen wurden, dennoch fortfahren zu bitten, und wenn der Herr des Hauses nicht mehr erscheint, an der Türe klopfen und durch ihren Ungestüm überlästig werden. So will Gott, daß auch wir bitten und immer von neuem bitten, und nicht ablassen, zu bitten, daß Er uns zu Hilfe kommen, uns mit seiner Gnade beistehen, uns Licht und Kraft verleihen und nicht zulassen möge, daß wir jemals wieder seine Gnade verlieren. Der gelehrte Lessius sagt, daß von einer schweren Sünde nicht freigesprochen werden könne, wer nicht betet, wenn er sich im Stande der Todsünde oder in einer Todesgefahr befindet, wie auch, wer durch längere Zeit, das ist: durch einen oder zwei Monate, das Gebet vernachlässigt. Dies versteht sich jedoch nur unter der Voraussetzung, daß man während dieser Zeit keine Versuchungen zu erleiden hat; denn wenn jemand von einer schweren Versuchung überfallen wird, so ist er ohne Zweifel unter einer Todsünde verpflichtet, zu Gott seine Zuflucht zu nehmen und Ihn um seinen Beistand zu bitten, weil er sich sonst der nächsten, ja der gewissen Gefahr aussetzt, zu unterliegen.

Hier wird aber mancher die Frage aufwerfen: Da Gott mir die heilige Beharrlichkeit geben kann und geben will, warum gibt Er sie mir nicht sogleich ein für allemal, wenn ich Ihn darum bitte? Die heiligen Väter antworten auf diese Frage mit mehrfachen Gründen. Gott verschiebt die Gewährung: vorerst um unsere Treue zu prüfen, ferner, wie der heilige Augustinus sagt, damit wir mit größerer Sehnsucht nach dieser Gnade seufzen und sie um so höher schätzen: „Gott will nicht schnell geben, damit du lernen mögest, daß man nach großen Dingen ein großes Verlangen tragen müsse: lange Ersehntes wird mit größerer Freude empfangen, was aber schnell gewährt wird, achtet man nicht“ (Serm. 61. alias 5. de verb Dom.). Ferner verschiebt Gott diese Gnade, damit wir immer seiner eingedenk seien; denn wenn wir unserer Beharrlichkeit und unseres ewigen Heiles gewiß wären, und nicht beständig des göttlichen Beistands bedürften, um in der Gnade zu verharren und unser Heil zu wirken, so würden wir nur zu leicht in eine Vergessenheit Gottes geraten. Die Not ist es, welche die Armen zwingt, oft die Häuser der Reichen zu besuchen. Um uns an sich zu ziehen, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, um uns oft betend und seufzend zu seinen Füßen zu sehen, um uns größere Gnaden und Wohltaten zu erweisen, verschiebt Gott die Gewährung der Gnade, die unser ewiges Heil vollendet, auf die Zeit, wo wir aus diesem Leben scheiden. „Er verschiebt die Gewährung unserer Bitten nicht, weil Er sie zurückweisen will, sondern weil Er uns durch diesen Kunstgriff seiner Barmherzigkeit an sich ziehen will, indem Er uns eifriger und um unser Heil besorgter macht“ (Hom. 30. in Gen.). Endlich verschiebt Gott uns diese Gnade deshalb, damit das fortwährende Gebet uns durch die süßen Bande der Liebe immer inniger mit Ihm vereinige. „Das Gebet“, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, „ist kein geringes Band der göttlichen Liebe; denn es gewöhnt uns an den Umgang mit Gott“ (In Psalm 4.). O wie schließen wir uns immer enger an Gott an, wie werden unsere Herzen immer mehr mit dem Feuer der heiligen Liebe entzündet, wenn wir beständig im Gebete zu Gott unsere Zuflucht nehmen und mit Vertrauen von Ihm die Gnaden erwarten, nach welchen wir uns sehnen!

Wie lange müssen wir aber fortfahren zu beten? So lange, antwortet derselbe Heilige, bis wir die Gnade des Heils empfangen, bis wir den Spruch vernehmen, daß wir gerettet sind, das heißt: bis zum letzten Augenblicke unseres Lebens: „Lasse nicht ab, bis du empfängst“ (Hom. 24. in Matth.). Und er fügt hinzu, daß derjenige, der entschlossen ist, von dem Gebete nicht abzulassen, bis er sich gerettet sieht, ganz gewiß seine Seele retten werde: „Wenn du sagst: ich werde nicht weichen, bis ich empfangen habe, so wirst du ganz gewiß empfangen.“ Der Apostel sagt, daß zwar viele in der Rennbahn um den Siegespreis laufen, daß aber nur der eine ihn gewinnt, der ihn ergreift: „Wisset ihr nicht, daß diejenigen, die in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer den Preis erlangt? Laufet so, daß ihr ihn ergreift“ (1 Kor 9,24). Es genügt also nicht, um selig zu werden, daß man überhaupt bete, sondern wir müssen immerfort und so lange beten, bis wir dahin gelangt sind, die Krone zu empfangen, die uns Gott verheißt, aber nur denen verheißt, die standhaft im Gebete ausharren bis zu ihrem Ende.

Wir müssen also, wenn wir unser Heil wirken wollen, wie David immerfort unsere Augen auf den Herrn gerichtet halten, um seine Hilfe zu erflehen, damit wir von unseren Feinden nicht überwunden werden: „Meine Augen sind immer auf den Herrn gerichtet; denn Er wird meine Füße dem Fallstricke entreißen“ (Ps 24,15). Unser Widersacher ruht nicht, wie der heilige Petrus bezeugt: „Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe, und sucht, wen er verschlingt“ (1 Petr 5,8). Gleichwie also der böse Feind unablässig uns nachstellt, um uns zu verschlingen, so müssen auch wir unablässig die Waffen in den Händen haben, um uns gegen diesen unermüdlichen Feind zu verteidigen, und mit dem königlichen Propheten ausrufen: „Ich will meine Feinde verfolgen und nicht umkehren, bis sie darniederliegen“ (Ps 17,38). Ich werde nicht ablassen zu kämpfen, bis ich den Sieg davontrage. Wie werden wir aber diesen Sieg davontragen, der so schwer zu erringen ist, und von dem doch alles abhängt? „Durch das beharrliche Gebet“, antwortet der heilige Augustinus. Also nicht einfach dadurch, daß wir beten, sondern daß wir auf das beharrlichste beten. Und wie lange müssen wir beharrlich beten? „So wie der Kampf niemals aufhört, so müssen auch wir niemals aufhören, die göttliche Barmherzigkeit anzurufen“ antwortet der heilige Bonaventura (Serin. 27. de conf.). Wehe dem, sagt der Siracide, der in diesem Kampfe abläßt zu beten: „Wehe denen, welche die Ausdauer verlieren“ (Sir 2,6). Der Apostel versichert uns, daß wir unser Heil wirken werden, aber unter einer Bedingung: wenn wir beharrlich fortfahren mit Vertrauen zu beten bis an unser Ende: „Wenn wir das Vertrauen und die herrliche Hoffnung bis ans Ende festhalten“ (Hebr. 3,6.)

Rufen wir also mit lebendigem Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes und seine Verheißungen mit demselben Apostel aus: „Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Not, oder Hunger, oder Blöße, oder Gefahr, oder Verfolgung, oder das Schwert?“ (Röm 8,37) Was wird uns von der Liebe Jesu Christi scheiden? Die Leiden und Trübsale dieses Lebens? Oder die Gefahr, die Güter dieser Welt zu verlieren? Oder die Anfälle der höllischen Geister? Oder die Verfolgungen der Menschen? Oder die Grausamkeit der Tyrannen und die Martern, mit welchen sie uns bedrohen? „In allem diesem überwinden wir um desjenigen willen, der uns geliebt hat“ (Röm 8,37). Nichts von allem diesem wird uns zu scheiden vermögen, weil wir kämpfen werden aus Liebe zu demjenigen, der für uns sein Leben hingegeben hat, und mit dessen Beistand wir alles überwinden werden. An dem Tage, an welchem der Pater Hippolyt Durrazzo den Entschluß faßte, allen Ehren und Würden zu entsagen, sich ganz Gott zu schenken und in die Gesellschaft Jesu einzutreten, wandelte ihn eine große Furcht an, daß er aus Schwäche seinem Vorsatz wieder untreu werden könnte, und er rief deshalb aus: „Herr, verlaß mich nicht!“ Allein er vernahm sogleich in seinem Inneren eine Stimme, die ihm antwortete: „Verlaß du mich nicht!“ Durch diese Worte wurde der Diener Gottes getröstet und im Vertrauen auf die unendliche Güte des Herrn und seinen Beistand gestärkt, und sprach: „So wirst Du also, o mein Gott, mich nicht verlassen, und ich werde Dich nicht verlassen.“

Ich komme zum Schlusse. Wenn wir wollen, daß Gott uns nicht verlasse, so dürfen wir unsererseits das Gebet nicht verlassen und müssen Ihn unaufhörlich bitten, daß er mit seiner Gnade und Barmherzigkeit nicht von uns weichen möge. Tun wir dies, so wird Er uns gewiß immer beistehen, und nie zulassen, daß wir seine Gnade verlieren und von seiner Liebe geschieden werden. Und zu diesem Ende sollen wir Gott nicht bloß unablässig um die Gnade der Beharrlichkeit und um die hierzu nötigen Gnaden bitten, sondern wir sollen Ihn zugleich im voraus um die Gnade bitten, im Gebete auszuharren; was eben jene große Gabe ist, die der Herr seinen Auserwählten durch den Mund des Propheten verheißen hat: „Und ich will ausgießen über das Haus David und über die Einwohner Jerusalems den Geist der Gnade und des Gebetes“ (Zach 12,12). O welch große und herrliche Gabe ist der Geist des Gebetes, das ist: die einer Seele verliehene Gnade, unaufhörlich zu beten. Unterlassen wir es also nie, Gott um diesen Geist des Gebetes zu bitten, um diese Gnade, unaufhörlich zu beten; denn wenn wir nicht aufhören, zu beten, so werden wir ganz gewiß die Beharrlichkeit und alle anderen Gaben und alles, was wir uns wünschen, erlangen; denn Gott kann seinen Verheißungen, uns zu erhören, nicht untreu werden: „Durch die Hoffnung werden wir selig“ (Röm 8,24). Mit dieser Hoffnung, im Gebete auszuharren, können wir unser Heil für gesichert ansehen. Diese Hoffnung ist es, die uns einen sicheren Eingang in die Stadt gewährt, sagt der ehrwürdige Beda (Serm. 18. de Sanctis), nämlich in die Stadt Gottes, in das himmlische Jerusalem.

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