Eine Betrachtung über die göttliche Liebe

 

Vierte Erwägung: die Liebe Gottes selbst

Nachdem wir durch die Erkenntnis der Wohltaten gleichsam nur zu Gott aufgeschaut haben, erheben wir unser Herz, um Gott selbst, den Ursprung alles Guten, zu betrachten. Der hl. Ignatius sagt, wir sollen schauen, wie alles Gut, jede Gabe und alle Vollkommenheit absteigt von oben, von Gott, dem ewigen Sein. Alles Gute, das wir an den Geschöpfen bewundern, wie auch unsere beschränkte Kraft, kommt von der höchsten und unendlichen Vollkommenheit Gottes. All unsere Tugend, unsere Gerechtigkeit, Güte, Frömmigkeit, Barmherzigkeit, usw. kommt von Gott, der die Gerechtigkeit, die Güte usw. selbst ist, ähnlich wie die Strahlen, die von der Sonne ausgehen und wie die Wasser, die vom Quell ausströmen.

Wir sollen nicht bei den Geschöpfen stehenbleiben und uns zu sehr an ihnen ergötzen, sondern uns von ihnen lösen und sie transzendieren, d. h. durch sie zum unvergleichlich höheren, zum ewigen Gut, zu Gott, emporsteigen. Wie könnten wir uns bei schwachen Geschöpfen aufhalten, die nur eine Spur und ein schwaches Abbild der Güte Gottes sind. Wie könnten wir in der Selbstbetrachtung von uns eingenommen bleiben, deren Vollkommenheit im Vergleich zu Gott sich geradezu armselig ausnimmt! «Tu solus sanctus, tu solus Dominus! Du allein bist der Heilige, Du allein bist der Herr!» Ist es denn möglich zu sagen, «ein Geschöpf genügt mir», wenn mir Gott sein Verlangen offenbart, sich als das höchste Gut mir ganz zu schenken? Nein! Wir wollen uns lösen von jeder ungeordneten Anhänglichkeit an ein Geschöpf und an uns selbst.

Wenn es durch die Gnade dieser Betrachtung gelingt, daß die Seele im Staunen und in der Anbetung vor der Unbegreiflichkeit Gottes niedersinkt, einen Strahl seiner Liebe erfährt und Ihn im Innersten der Seele gleichsam berührt, kann sie sprechen:

mit dem heiligen Bruno: «O Bonitas — O Güte!»

mit dem heiligen Franziskus: «Mein Gott und mein Alles!»

mit der heiligen Theresia: «Gott allein genügt!»

mit der allerseligsten Jungfrau Maria: «Magnificat — hochpreiset meine Seele den Herrn!»

Die Erfahrung der Liebe Gottes wird uns helfen, Gott nicht nur aus ganzem Herzen zu lieben, sondern von dieser Liebe beseelt, Ihm zu dienen in der Treue zu seinen Geboten und in der immer wieder erneuerten und gelebten Hingabe unserer selbst.

Die Gottesliebe ist die eigentliche Lebenskunst, die wahre Beseligung und das höchste Glück für uns Menschen.

«Nimm Dir, Herr, und nimm an meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, mein ganzes Haben und Besitzen. Du hast es mir gegeben, zu Dir, Herr, wende ich es zurück; das Gesamte ist Dein; verfüge nach deinem Willen, gib mir nur Deine Liebe und Gnade, das ist mir genug.»

«Preise meine Seele den Herrn! Alles in mir lobpreise seinen hl. Namen! Preise meine Seele den Herrn, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan!»

(Aus dem 102. Psalm)