301. Der gute Schächer

(Mt 27, Lk 23)

 

I Jesus wird vom bösen Schächer verhöhnt

Einer von den Missetätern, die mit Ihm gekreuzigt waren, lästerte Ihn mit den Worten: «Bist Du nicht der Messias? Dann hilf dir selbst und uns!» Der andere aber verwies es ihm und sagte: «Hast denn auch du keine Furcht vor Gott, obwohl du doch die gleiche Strafe erleidest? Wir freilich mit Recht; denn wir empfangen, was unseren Taten entspricht; Dieser aber hat nichts Unrechtes getan.»

Betrachte, was zwischen den beiden Leidensgefährten des göttlichen Heilands vor sich geht; höre, was sie sagen! Beide leiden das Gleiche, aber das Kreuz rettet den einen, während es den andern in der Sünde verhärtet. Der eine beschimpft den Heiland, der andere setzt sein Vertrauen auf Ihn. Woher dieser Unterschied? Versuche es dir zu erklären!

Frage dich selbst: Verstehst du es, zu leiden? Wenn dich Leiden heimsuchen, nimmst du sie als heilsame Sühne an, die dir das Anrecht auf die ewigen Güter wiedergibt? Erkennst du in ihnen die barmherzige Gerechtigkeit, die dich heimsucht? Sucht dein gläubiger Blick am Kreuz Jenen, der all unsere Leiden heiligt? Hilft dir das Leiden, Ihn immer besser zu erkennen und inniger zu lieben? Murrst du nicht gegen die Strafe? Zweifelst du nicht an der Güte Gottes und an seiner Vorsehung? Mußt du nicht zu deiner Beschämung gestehen, daß vielleicht andere, die weniger Licht und Gnade empfangen haben, dennoch ihre Leiden besser tragen als du?

 

II Die Bitte des guten Schächers und ihre Erhörung

Dann sagte er zu Jesus: «Herr, gedenke mein, wenn Du in dein Reich kommst.» Da antwortete Er ihm: «Wahrlich, ich sage dir: Heute noch wirst du bei mir im Paradiese sein!»

Höre das Gebet des guten Schächers: «Herr, gedenke meiner, wenn Du in dein Reich kommst!» Er erkennt in dem wie ein Verbrecher Hingerichteten den Heiligen der Heiligen, den lebendigen Gott. In der Todesstunde wird er zum Glauben wiedergeboren. Und der Glaube erweckt in einem Augenblick in der Seele dieses armen Verbrechers eine tiefe Demut, eine heldenmütige Geduld, einen wahren und aufrichtigen Bußgeist und Reue, die ihn zum öffentlichen Bekenntnis seiner Vergehen drängt und ihm vollständige Verzeihung erwirkt. Er spricht: «Ich leide, was ich verdient habe», und er fügt vertrauensvoll bei: «Herr, gedenke meiner. Wenn ich auch Deiner ganz unwürdig bin, so leide ich doch mit Dir und in deiner Nähe; darum gedenke meiner! Gedenke, daß ich zu Dir betete, während andere Dich beschimpften, daß ich Dir vertraute, während andere Dich einen Betrüger schalten. Gedenke meiner! Ich bekenne Dir meine Sünden, ich bringe Dir meine Huldigung dar. Ich sterbe getrost, wenn ich sicher bin, daß Du meiner gedenken willst.» — Erwäge diesen Hilferuf eines gedemütigten und zerknirschten Herzens.

Was erwidert der Erlöser auf diese Bitte? Das Himmelreich verspricht Er jenem, der nur bat, seiner nicht zu vergessen. «Heute noch wirst du bei mir im Paradiese sein.» Heute noch — nicht erst nach vielen Jahren läuternden Fegfeuers! Vom Kalvarienberg zum Himmel gelangt man in einem Tag! Schöpfe neue Hoffnung und begib dich wieder mutig auf den Weg zum Gipfel der Vollkommenheit!

Was kannst du nicht alles von einem so gütigen Meister erwarten? Seine eigenen Qualen vergißt Er, um das Flehen eines armen Sünders zu erhören. Er schwieg, als man Ihm fluchte, sobald aber sein Ohr die Klage eines Leidenden hört, kann Er nicht umhin, ihm zu antworten und seine Bitte zu erfüllen. Das Versprechen, das Er dem guten Schächer gegeben hat, hält Er auch dir gegenüber. In seinem Reich gedenkt Er auch deiner. Er bereitet dir einen Platz, gibt dir alle Mittel an die Hand, um dorthin zu gelangen, und ruft dir mit ersterbender Stimme zu, Ihm nachzufolgen. Versprich Ihm, daß du alles tun willst, was in deinen Kräften steht!