285. Die Gerichtsverhandlung bei Pilatus

(Mt 27, Mk 15, Lk 23)

 

I Pilatus erklärt Jesus als unschuldig

Nach diesen Worten ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: «Ich finde keine Schuld an Ihm.»

Pilatus möchte Jesus retten. Aber er macht den Fehler, mit den grimmigsten Feinden des Herrn zu verhandeln. Und die Hohenpriester und Ältesten brachten viele Anklagen gegen Ihn vor. Der Aufruhr vor dem Prätorium steigert sich, die Ankläger und ihre Beschuldigungen werden immer zahlreicher. Warum so viele Ankläger? Weil Jesus alle Schuldigen vor dem göttlichen Richter vertritt. Alle Anklagen, die seit Anbeginn der Welt sich gegen Menschen erhoben, sollen hier zusammenklingen. Warum so viele Beschuldigungen? Weil der Heiland mit der Sündenlast der ganzen Welt beladen ist. Vor dem Richterstuhl des Pilatus findet gewissermaßen die öffentliche Beichte des ganzen, gefallenen Menschengeschlechtes statt. Entferne dich aus dem Tumult der Ankläger. Knie andachtsvoll vor dem geduldigen Sühnopfer nieder! Bei jeder Beschuldigung, die an dein Ohr dringt, schlage an deine Brust und sprich reuig: «Es ist meine Schuld! Ja, guter Meister, durch meine Schuld, meine große Schuld wirst Du verleumdet, beschimpft und ans Kreuz geschlagen. Meine Sünden haben den göttlichen Zorn heraufbeschworen, dessen Opfer Du bist. Alles, was man gegen dich vorbringt: Lüge, anmaßenden Stolz, ehrgeizige Bestrebungen, ungerechte Strenge und Gesetzesübertretung habe ich mir zuschulden kommen lassen. Ich bekenne meine Sünden und bereue sie. Gib mir ein neues Herz und erwirke mir Verzeihung beim himmlischen Vater! Ich verspreche dir, nach Kräften Buße zu üben.

 

II Jesus schweigt

Nun brachten die Hohenpriester viele Anklagen gegen Ihn vor. Pilatus fragte Ihn weiterhin: «Entgegnest Du nichts? Höre doch, was sie alles gegen dich vorbringen!»

Die Erklärung des Pilatus hat die Ankläger noch mehr aufgeregt, statt sie zu beruhigen. Der Richter glaubt, daß er ein neues Verhör anstellen soll. Stelle dich neben den angeklagten, gefesselten Heiland!

«Hörst Du nicht», fragt der Richter, «was jene gegen Dich vorbringen?» Freilich hört es der Heiland, aber Er schweigt. An den unbegründeten Anschuldigungen liegt Ihm wenig, das Zeugnis seines Gewissens genügt Ihm. Die Verachtung der Welt berührt Ihn nicht, vom ungerechten Urteil der Menschen beruft Er sich auf das Gericht Gottes. Zur Zeit, da Gott es will, wird seine Unschuld allen offenbar werden, diesen Augenblick will Jesus abwarten.

Warum sollte Jesus auch reden? Er steht ja an unserer Statt vor den Schranken des Gerichtes mit den Gesinnungen, die uns angesichts der erzürnten Gerechtigkeit Gottes beseelen sollten.

Was würdest du empfinden, meine Seele, wenn du im göttlichen Licht die ganze Häßlichkeit deiner Sünden und die Heiligkeit Gottes, dessen Gesetze du zu übertreten gewagt hast, klar erkenntest? Wie wäre dir bei seinen gerechten Vorwürfen zumute? Vor Beschämung könntest du die Augen nicht erheben und deinen Mund nicht zur Entschuldigung öffnen. Was kann man der ewigen Wahrheit erwidern? Die einzige Rettung ist, das Mitleid deines Richters anzuflehen. Jesus, dein Heiland, tut es für dich. Er schweigt, betet und läßt die Schläge der göttlichen Gerechtigkeit auf sich niederfallen, damit du verschont bleibst. Womit willst du solche Liebe vergelten?