272. Jesus sucht Trost bei den Jüngern

(Mt 26, Mk 14, Lk 22)

 

I Jesus findet seine Apostel schlafend und tadelt sie sanft

Er erhob sich vom Gebete und ging zu seinen Jüngern1, fand sie aber vor Traurigkeit schlafend. Da sprach Er zu ihnen: «So vermochtet ihr nicht einmal eine Stunde mit mir zu wachen?» Kehre zum Heiland in seiner Todesangst zurück! Die göttliche Gerechtigkeit, die Er zu besänftigen versucht hat, bleibt unerbittlich. In tiefster Ehrfurcht unterwirft sich Jesus ihrem Ratschluß, aber die Einsamkeit lastet schwer auf Ihm. Er sehnt sich nach einem Trosteswort der Seinen. Zudem will Er trotz seiner eigenen Seelenqualen seine Jünger ermahnen und zum Kampf aufmuntern. Als guter Hirt wacht Er über seine Herde und unterbricht sein Gebet.

Folge deinem Meister, deinem großmütigen Erlöser! Was wird Ihm jetzt für seine grenzenlose Aufopferung werden? — Er findet seine Jünger schlafend. — Ermiß den tiefen Schmerz, die bittere Enttäuschung, die das göttliche Herz Jesu erleidet, wenn feige, gleichgültige Seelen Ihn auf diese Weise behandeln. Die Jünger, auf deren Erziehung Er soviel Mühe und Sorgfalt verwendet hat, sind noch nicht imstande, mit Ihm zu wachen, zu beten und zu kämpfen. «Simon! Du schläfst?» Höre den Ton schmerzlichen Erstaunens, der in dieser Frage liegt! Es ist in der Tat zum Staunen, daß Judas wacht und alle Feinde Jesu in fieberhafter Tätigkeit sind, während seine Freunde, seine Jünger schlafen. Weder die drohende Gefahr noch die Leiden des Meisters, noch das Andenken an die gefaßten Vorsätze sind imstande, die Jünger wach zu halten. — «Warum schlaft ihr? Ist es mir noch immer nicht gelungen, euch von der Wichtigkeit der ewigen Wahrheiten zu überzeugen? Habt ihr meinem Unterricht nur mit halbem Ohr zugehört? Habt ihr mir nur ein kaltes, gleichgültiges Herz entgegengebracht? Warum schlaft ihr?»

O meine Seele, antworte deinem liebevollen Erlöser. Bekenne deine Schuld, demütige dich und bitte um Verzeihung! Erinnere dich seiner Mahnung, die für alle Zeiten und Lebenslagen gilt: «Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet. Der Geist ist zwar willig; das Fleisch aber ist schwach.»

1 Im Garten Gethsemani befindet sich nahe bei den Ölbäumen eine Felsenplatte, auf der sieben bis acht Personen bequem Platz finden. Nach der Überlieferung hat Jesus seine Apostel auf diesem Felsen zurückgelassen, und hier fand Er sie auch schlafend.

 

II Jesus begibt sich abermals zum Gebet

Er entfernte sich zum zweitenmal und betete: «Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht vorübergehen kann, ohne daß ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!»

Folge in dankbarer Treue den Spuren des leidenden Heilands und betritt mit Ihm wiederum die Grotte! Wünsche, in deinem Herzen die Liebe aller Auserwählten im Himmel und auf Erden zu vereinen, um sie deinem Erlöser darzubringen.

Von neuem beginnt Jesus zu zittern und zu seufzen in seiner Todesangst. Er wendet sich an seinen Vater und findet keine Aufnahme. Er streckt die Arme aus nach der Barmherzigkeit und wird von der Gerechtigkeit zurückgestoßen. Er fleht um Hilfe, doch Er bleibt verlassen und trostlos, als sei Er jeder Teilnahme unwürdig. Er liegt in Wahrheit ganz vernichtet vor Gott. Dieser Anblick darf dich nicht niederdrücken, sondern soll dein Herz zu demütigem Vertrauen erheben. Verweile schweigend und anbetend in liebendem Mitleid bei deinem verlassenen, einsam leidenden Erlöser! Siehe, wie Jesus zittert und zagt in der Voraussicht des Kreuzes und beim Nahen des Todes. Wenn Er die Schmach und Verachtung fürchtet, wenn Er bangt vor dem körperlichen Schmerz, wenn Er erschrickt vor den Verleumdungen und der Wut seiner Feinde, wie kannst du dich noch wundern, denselben Eindrücken unterworfen zu sein und dieselben Schwächen zu fühlen? Laß dir dies zur Ermutigung gereichen! Tränke deine Seele mit dem blutigen Schweiß deines Erlösers, um sie vollkommen zu reinigen und ein neues Leben in ihr zu begründen, ein Leben der Wachsamkeit, Treue und Liebe.

 

III Jesus kommt zum drittenmal zu seinen Aposteln

Er kam zum drittenmal und sprach zu ihnen: «Ihr schlaft und ruht euch aus? Genug, die Stunde ist da. Jetzt wird der Menschensohn in die Hände der Sünder ausgeliefert.»

Laß noch einmal, ehe du die Todesangstgrotte verläßt, an deinem Geiste alles vorüberziehen, was dort vor sich gegangen ist. Küsse andachtsvoll die Blutspuren; höre abermals das flehentliche Gebet Jesu; sieh den Engel des Trostes nahen. Am Ölberg hat Jesus gesiegt und in liebender Ergebung alles angenommen, alles geopfert. Zum Ölberg mußt du zurückkehren in schweren, bitteren Stunden, wenn du wie Jesus siegen willst. Nun ist Er bereit, alles zu leiden. Höre, was Er jetzt zu seinen Jüngern sagt: «Die Stunde ist gekommen . Steht auf und lasset uns gehen!» Er spricht nun nicht mehr wie ein Mensch, der den Tod fürchtet. Die göttliche Liebe hat den Sieg über die Natur davon getragen; alle Furcht ist für immer gewichen. Die Stunde, sein Vorhaben auszuführen, ist angebrochen. Auch für dich ist die Stunde gekommen zu zeigen, ob deine Frömmigkeit echt, dein Eifer für den Nächsten aufrichtig, deine Demut tiefgegründet und deine Treue standhaft ist.

Erhebe dich, meine Seele, mit festem Mut; eile zum Kampf gegen deine Feinde und streite tapfer unter dem Banner Jesu Christi! Erhebe dich, Ihn zu begleiten in Leiden, Schmach und Tod! Erhebe dich zu höherer Erkenntnis, innigerer Liebe und treuerer Nachfolge. Denke nach, wie du sie am heutigen Tag üben kannst. «Siehe, die Stunde ist gekommen!»