98. Die Pharisäer begehren ein Wunder von Jesus

(Lk 11, Mt 12)

 

I Jesus wirkt kein Wunder für die, welche sich nicht bekehren wollen

Dann redeten einige von den Pharisäern und Schriftgelehrten zu Ihm und sprachen: «Meister, wir möchten von Dir ein Wunder sehen.»

Höre die Pharisäer und Schriftgelehrten ihr Verlangen äußern. «Meister», sagen sie, «noch ein Wunder, aber ein recht augenfälliges; gib noch einen Beweis deiner Sendung, aber einen solchen, der uns zum Glauben zwingt!» Was beabsichtigen sie mit diesem Wunsche?

Hat der Heiland noch nicht genug Wunder gewirkt? Doch! Wenn das, was der Erlöser bis jetzt getan und gesagt hat, den Juden noch nicht genügt, so hat das einen anderen Grund: sie haben seine Worte und seine Lehre noch nicht mit genügender Aufmerksamkeit erwogen; sie haben über seine Werke nicht nachgedacht. Es ist die freiwillige Zerstreutheit, die nicht sehen will, der Stolz, der sich nicht beugen will, die Menschenfurcht, die man nicht ablegen will, die böse Gewohnheit, der man nicht entsagen will. Diese Menschen verlangen ein Wunder, nur um neuen Stoff zu ihren endlosen Erörterungen und Einwänden und zugleich einen neuen Vorwand zu haben, sich nicht zu bekehren. Deshalb gewährt der Heiland ihre Bitte nicht.

Jesu ablehnende Antwort klingt wie eine Klage. «Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen. Aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jonas.» Die Güte des Heilandes ist unendlich; aber es kommt eine Stunde, wo sein Licht und seine Gnade denen entzogen werden, die sie nicht benutzen wollten. Betrachte diese Handlungsweise Jesu und lerne, wie man es anlegen muß, um vom göttlichen Erlöser Wunder zu erlangen.

 

II Jesus verheißt das Wunder seiner Auferstehung

Denn wie Jonas drei Tage und drei Nächte im Bauche des Fisches war, so wird auch der Menschensohn drei Tage im Schoße der Erde sein.1 Denn gleich wie Jonas ein Zeichen war für die Niniviten, so wird es der Menschensohn diesem Geschlechte sein.»

Betrachte auch diese Worte Jesu und fasse Mut. Wenn Er jetzt ein Wunder verweigert, so ist doch das letzte Wort über Israel noch nicht gesprochen. Er verflucht das auserwählte Volk nicht. Es bleibt ihm ein Heilmittel. Der Erlöser verspricht noch ein Wunder, und in diesem letzten Wunder wird Er die ganze Macht seiner Beweisgründe entfalten, alle Überzeugungskraft seiner Beredsamkeit, die ganze Glut seiner Liebe.

O meine Seele, eines Tages wirst du deinen Erlöser suchen, der deinen Blicken entschwunden ist. Das Grab hat sich über Ihm geschlossen und man wird dir sagen: «Er ist für dich gestorben und Er wird wieder auferstehen, um dich zu überzeugen und dich für den Glauben zu gewinnen. Was Jonas den Niniviten gewesen ist, das will Jesus dir sein. Du wirst Ihm nicht länger widerstreben und du kannst, wie auch Israel, noch gerettet werden. Darum Vertrauen!

1 Der jüdische Tag dauerte von einem Sonnenuntergang bis zum anderen. Jeder Teil dieses Tages galt für einen ganzen Tag. Es genügte also, damit die Weissagung sich erfüllte, daß Jesus vor dem Ende des ersten Tages ins Grab gelegt wurde, daß Er daselbst den zweiten Tag ruhte und daß Er in den Morgenstunden des dritten Tages auferstand.

 

III Jesus sagt den Verstockten ihre Beschämung beim letzten Gerichte voraus

«Die Männer von Ninive werden in dem Gerichte mit diesem Geschlechte auftreten und werden es verdammen; denn sie taten Buße auf die Predigt des Jonas. Und siehe, hier ist mehr als Jonas!»

Erwäge ernstlich die Vorwürfe, die der Erlöser dem Volke macht, das von Ihm ein Wunder begehrt. Er nennt es ein böses und ehebrecherisches Geschlecht; denn es hat den Bund gebrochen, den Gott mit ihnen geschlossen hat. Es hat sein Herz abgöttischen Begierden hingegeben und den wahren Gott vergessen. Seine zeitlichen Interessen hat es den ewigen vorgezogen. Darum ist das Volk blind geworden und hat den ihm gesandten Sohn Gottes nicht erkannt. Bei seinem Erscheinen ist es gleichgültig geblieben und hat sich somit unfähig gemacht, den Sinn seiner Lehre und die Größe seiner Wunder zu erfassen. Um ein neues Herz sollte das Volk bitten und nicht um ein neues Wunder.

Gehörst nicht auch du diesem Geschlechte an, das dem Heiland gegenüber so vieles verschuldet hat? Erforsche dein Gewissen! Vielleicht bezieht sich der Vorwurf Jesu auch auf dich. Versetze dich im Geiste vor Gottes Richterstuhl. Zähle deine Ankläger, d. h. alle jene, die, weniger erleuchtet und weniger begünstigt als du, dennoch durch ihren aufrichtigen Glauben und ihr ernstes Tugendstreben dem Evangelium mehr Ehre gemacht haben. Welchen Urteilsspruch verdienst du?