94. Die Bekehrung Maria Magdalenas

(Lk 7)

 

I Die Sünderin zu den Füßen Jesu

Ein Pharisäer bat ihn, bei ihm zu essen. Er ging in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tische.1 In der Stadt lebte eine Frau als Sünderin.2 Als sie erfuhr, daß Er im Hause des Pharisäers zu Tische sei, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl. Sie stellte sich weinend hinter seine Füße und fing an, seine Füße mit ihren Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen. Dann küßte sie seine Füße und salbte sie mit dem Salböl.

Tritt mit dem Heiland in das Haus des Pharisäers ein; halte dich an seiner Seite, um seine barmherzige Liebe besser bewundern zu können. Die verirrten Seelen sollen erfahren, in welchem Maße sie von ihrem Heiland die Gnade der Verzeihung erwarten dürfen.

Betrachte die Sünderin zu den Füßen Jesu. Diese Frau ist ein Opfer der Sinnlichkeit und Hoffart, eine Sklavin der Leidenschaft und der Eitelkeit, ein Gegenstand des Ärgernisses. Und doch verweilt der Heiland um ihretwillen in der Stadt. Die göttliche Weisheit würdigt sich, jene an sich zu ziehen, welche die Welt verachtet. Jesus begnügt sich nicht damit, um der Sünderin willen der Einladung des Pharisäers Folge zu leisten, Er nimmt sie auch mit unaussprechlicher Herablassung auf. Er erlaubt ihr, sich Ihm zu nahen, ermutigt sie durch seinen Blick und scheint den Gästen schon dadurch zeigen zu wollen, daß Er an ihrer Huldigung Gefallen findet. Alle Bedingungen, unter denen Gott verzeiht, hat die Sünderin schon erfüllt.

Um welchen Preis gewährt denn der Heiland die Verzeihung, welche Maria Magdalena so demütig begehrt? Um den Preis ihrer Liebe. Was einzig Gott in dieser Welt sucht, ist das Herz seines Geschöpfes, und das ist auch alles, was Er vom verirrten Sünder verlangt.

Was tut die Sünderin zu den Füßen Jesu? Siehe ihre Tränen, errate ihr stummes Bekenntnis, atme den Wohlgeruch ihres Nardenöls ein. Was will all das sagen? Nichts anders als: «Mein Gott, verzeihe mir; denn ich liebe dich!» Sie macht ihr Herz von seinen Fesseln los, um es ganz Gott zu schenken. Sie hat die Lehre Jesu von der göttlichen Barmherzigkeit verstanden; ihre Reue ist vollkommen. Lerne von ihr, deine Sünden zu bereuen und dein Herz den Geschöpfen zu entreißen, um es Dem wiederzugeben, der es für sich erschaffen hat.

1 Seit der Babylonischen Gefangenschaft folgten die Juden bei Tisch dem Beispiel der Griechen und Römer; wie diese legten sie ihre Sandalen am Eingang ab und ließen sich auf Ruhepolstern nieder, welche vor den Tischen lagen. Sie aßen, indem sie sich auf den linken Arm stützten; der Körper war ausgestreckt und die Füße nach auswärts gekehrt.

2 Nach der allgemeinen Ansicht der Kirche ist diese Frau Maria Magdalena (Maria von Magdala), die Schwester des Lazarus.

 

II Jesus verteidigt die Sünderin und rechtfertigt seine Handlungsweise

Als der Pharisäer, der Ihn geladen hatte, dies sah, dachte er bei sich: «Wenn dieser ein Prophet wäre, wüßte er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn berührt — eine Sünderin.» Jesus sprach zu ihm: «Simon, ich habe dir etwas zu sagen.» Dieser erwiderte: «Sprich, Meister.» Er sprach: «Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. Da sie ihre Schuld nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun am meisten lieben?» Simon antwortete: «Ich glaube, der, dem er das meiste geschenkt hat.» Jesus sprach zu ihm: «Du hast recht geurteilt.»

Höre, wie der Heiland die Sünderin verteidigt. «Simon, ich habe dir etwas zu sagen.» Auch für dich trägt der Heiland diese rührende Parabel vor. Gott hat seinen eingebornen Sohn gesandt, damit Er uns lehre, wie wir unsere Schuld bei Ihm begleichen sollen. Gott verzeiht aus Liebe, wie Er auch die Welt aus Liebe erschaffen hat. Je mehr man liebt, desto mehr verzeiht Er, und je mehr Er verzeiht, desto mehr will Er geliebt werden. Ein einziger Akt der Liebe kann ein Leben voller Sünde aufwiegen. Wenn ich Gott liebe, habe ich seine Gerechtigkeit nicht mehr zu fürchten.

«Sieh, diese Frau», sprach Jesus zu Simon, «und vergleiche dich mit ihr! Wer von euch beiden liebt mehr, du oder sie? Wer versteht es besser, den Blick Gottes auf sich zu ziehen und sich seiner Güte würdig zu machen? Ich kam in dein Haus, und du gabst mir kein Wasser für meine Füße; sie aber hat meine Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du gabst mir keinen Kuß; sie aber hat seit meinem Eintritt unaufhörlich meine Füße geküßt. Du salbtest mein Haupt nicht mit Öl; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie viel Liebe gezeigt hat.»

Präge dir diese Worte tief ein und suche den Gedanken des Meisters ganz zu erfassen. Stelle auch du den Vergleich an, den Jesus seinem Gastgeber nahelegt. Erwäge, wie hoch der Heiland die zarten Liebeserweise eines reuigen Herzens schätzt!

O meine Seele, das Andenken an deine Fehler darf also niemals deine liebende Vertrautheit mit dem göttlichen Heiland vermindern. Obschon du gestern noch zu den verlorenen Schafen zähltest, darfst du dich heute wieder den am meisten bevorzugten Schäflein beigesellen, aus dem Becher des guten Hirten trinken und aus seiner Hand die Nahrung empfangen, mit der Er dich stärken will. Blicke auf die glückliche Büßerin; bitte sie um die Gesinnungen ihres Herzens und leiste auch du Genugtuung für deine Sünden.

 

III Jesus verzeiht der Sünderin und entläßt sie in Frieden

Dann sprach Er zu ihr: «Deine Sünden sind dir vergeben. Dein Glaube hat dich gerettet. Geh hin im Frieden!»

Betrachte aufmerksam die Worte der Verzeihung. «Dein Glaube hat dich gerettet.» Aus dem Glauben entspringt die Liebe, die Verzeihung erwirkt. Die Büßerin liebt, weil sie glaubt. Sie glaubt an den Sohn Gottes, an den Erlöser der Welt. Im Lichte des Glaubens hat sie Ihn betrachtet, und in diesem Licht erschien Er ihr unendlich schön und einer unbegrenzten Liebe würdig. Glaube und Liebe machten sie stark genug, mit einem Schlag alle Fesseln ihrer entehrenden Knechtschaft zu sprengen und so gewaltige Siege über sich selbst davonzutragen. Danke ihr, daß sie der Welt eine so herrliche Lehre gegeben hat, und entschließe dich, sie zu befolgen.

 

IV Jesus betont den Wert der Liebesreue

«Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie viel Liebe gezeigt hat.»

Bedenke, daß die Verzeihung der Sünden gewährt wird nach dem Maß der Liebe. Je größer die Liebe des Büßenden, desto wirksamer die Gnade der Bekehrung, denn die Sünde wurde begangen wegen eines Mangels an Liebe zu Gott, und so muß das entgegengesetzte Heilmittel, welches sie wieder heil macht, auch eine entsprechend große Liebe sein. Bedaure es, daß du Gott zu wenig geliebt hast, und bitte Ihn um die Vermehrung der göttlichen Liebe.

Die wahre Liebe zu Gott schließt auch den Abscheu vor der Sünde mit ein. Wenn du wahrhaft ein Kind Gottes bist, wirst du die Sünde als das größte Übel fliehen und auch die geringsten Sünden verabscheuen, weil sie eine Beleidigung deines gütigsten Vaters sind.

Bedenke auch, daß Gott mehr geliebt als gefürchtet sein will, denn seine Güte ist ihm wichtiger als seine Gerechtigkeit. Deshalb sind Ihm jene, die sich aus Liebe zu Ihm bekehren, überaus teuer, und sie werden eine vollständigere Verzeihung ihrer Sünden erlangen, als jene, die sich aus Furcht bekehren. Gott zu lieben, soll deshalb deine beglückendste Beschäftigung und deine eigentliche Lebensaufgabe sein!