90. Die Auferweckung des Jünglings von Naim

(Lk 7)

 

I Jesus begegnet dem Leichenzug

Darauf ging Er in eine Stadt mit Namen Naim.1 Seine Jünger und zahlreiches Volk zogen mit Ihm. Als Er sich dem Stadttore näherte, trug man einen Toten heraus, den einzigen Sohn seiner Mutter, die Witwe war. Viel Volk aus der Stadt ging mit ihr.

Eile deinem göttlichen Meister entgegen. Jesus sucht die leidenden Seelen auf. Um eine Mutter zu trösten, wandert Er Naim zu. Unsere Leiden ziehen Ihn an; wenn wir weinen, naht Er sich uns. So kommt Er auch jetzt nach Naim, grüße Ihn mit Liebe und Vertrauen.

Beim Anblick des Leichenzuges gedenke der schmerzlichen Trennung, die der Tod verursacht. Auch deine Lieben müssen diesen Weg gehen. Hier trägt man den einzigen Sohn einer Witwe zu Grabe. Diese arme Mutter bedarf eines Trösters; ihr Herz schreit nach Trost. Doch wahren Trost spendet nur der, der uns zurückgibt, um was wir trauern. Dazu hat uns der himmlische Vater seinen einzigen Sohn gesandt. Er soll uns nicht nur Erlöser und Herr, Er soll uns auch Tröster sein.

Knie gläubig vor dem Heiland nieder. Zeige Ihm die Lücken, die der Tod in die Reihen deiner Lieben gerissen hat. Zeige Ihm auch die Wunden in den Herzen anderer. Laß Ihn ihre Tränen sehen und bitte Ihn um Trost und Hilfe für alle. Er kann alles und zu jeder Stunde. Tod und Leben sind seiner Herrschaft unterworfen.

1Naim liegt auf den felsigen Hügeln des Kleinen Hermons in Galiläa. Gegenwärtig ist es nur mehr von wenigen Menschen bewohnt, deren Hütten am Hügel zerstreut liegen.

 

II Jesus tröstet die Mutter

Als der Herr sie sah, ward Er von Mitleid mit ihr ergriffen und sprach zu ihr: «Weine nicht.»

Siehe, wie Jesus sich dem Leichenzug naht und auf die betrübte Mutter zugeht. Möchten alle, die Gott vorwerfen, daß Er gleichgültig gegen unsere Schmerzen sei, sich bei diesem Anblick vom Gegenteil überzeugen! Niemand hat so herzliches Mitleid mit uns wie Jesus; denn Er kennt besser als irgend jemand die Leiden des menschlichen Herzens.

«Weine nicht!» spricht Jesus in sanftem Tone. Verkoste die Süßigkeit, die in diesem Worte liegt. Hast du es noch nie im Innersten deiner Seele gehört? Es ist die Stimme deines himmlischen Vaters, die dich auffordert, auf deinen Heiland zu hoffen, der aus dem Tod neues Leben ersprießen läßt. Warum sollte ich also den Tod fürchten, da niemand stirbt, den der Sohn Gottes behütet. Lebend und tot gehöre ich Ihm. Der Tod kann mich seinen allmächtigen Händen nicht entreißen. Er erwartet die scheidenden Seelen, um ihnen im Jenseits ein neues Leben zu verleihen. O meine Seele, setze all deine Hoffnung auf Jesus und belebe deinen Glauben an die göttliche Vorsehung.

 

III Jesus erweckt den Toten

Dann trat Er hinzu und rührte die Bahre an. Die Träger aber standen still. Und Er sprach: «Jüngling, ich sage dir, stehe auf.» Da richtete sich der Tote auf und fing an zu reden. Und Er gab ihn seiner Mutter.

Nahe dich mit dem Heiland der Bahre. Sieh, wie es den guten Meister drängt, mit seiner Allmacht hier Hilfe zu bringen. Ein Wort von Ihm genügt, um Tote zum Leben zu erwecken, die Seele wieder mit dem Leibe zu vereinigen. Er spricht, und was erstarrt dalag, erhebt sich, was dem Grabe verfallen war, kehrt ans Licht zurück.

«Stehe auf!» sagt Jesus zum Toten, und dieser erhebt sich von der Bahre. Richte deinen Blick mit großer Aufmerksamkeit auf diesen Menschen, der von den Gestaden der Ewigkeit wiederkehrt. Nahe dich ihm und höre ihm zu. Höre, was er vom Tode gelernt hat. Was sagt er zum Heiland, was zu seiner Mutter, was zu der Menge, die ihn umgibt? Sein neues Leben führt eine neue Sprache, die Sprache jener, die das Zeitliche richtig beurteilen, nachdem sie es im Lichte des Ewigen geschaut haben.

Der Auferweckte spricht auch zu dir, um dich dem Grabe der Lauheit und Selbsttäuschung zu entreißen, damit auch du zu einem neuen Leben erstehest, an welchem der Blick des himmlischen Vaters nichts mehr entdeckt, was an die Verirrungen und den Leichtsinn deines früheren Lebens erinnert. Es hieße die Wunder der göttlichen Güte verachten und dich den strengen Züchtigungen der Gerechtigkeit aussetzen, wenn du anders handeln würdest. Denke reiflich über diese Wahrheit nach. «Gott hat sein Volk heimgesucht», ruft die Menge überwältigt aus. Stimme ihr bei und sprich von Herzen: Gott hat mich heimgesucht, ich ergebe mich Ihm.