77. Von der Verzeihung des Bösen

(Mt 5, Lk 6)

 

I Jesus verlangt von seinen Jüngern, daß sie Böses mit Gutem vergelten

«Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, welche euch verfolgen und verleumden.»

«Liebet eure Feinde!» Stelle dir das Staunen der Zuhörer Jesu bei dieser Aufforderung vor. Bitte den Heiland, um Verständnis für dieses Gebot.

Ein Feind ist ein Mensch, der mir Böses will oder tut. Vielleicht ist es ein Mensch, der mir einst Freundschaft vorgetäuscht hat und der mein unkluges Vertrauen mißbraucht hat, um mir Schaden zuzufügen. Es ist vielleicht ein falscher Zeuge, der mich verleumdet hat, ein schlechter Mensch, der meinen Glauben ins Lächerliche zieht, ein Mitbewerber, der mir hinderlich ist, ein Heuchler, der meinen guten Ruf in Zweifel zieht. Welche Verpflichtungen habe ich solchen Menschen gegenüber? Ist es nicht Großmut genug, sich nicht zu rächen und nicht Böses mit Bösem zu vergelten? Muß die christliche Liebe noch weiter gehen?

Sich nicht rächen ist zwar schon heldenhaft, aber bedenke, daß Jesus beabsichtigt, uns zur höchsten Stufe des Großmut zu führen. Er sagt: «Vergilt das Böse mit Gutem. Das Böse nicht mit Bösem zu vergelten, ist der unterste Grad, das Böse mit Gutem zu erwidern, ist der höchste Grad der Liebe.»

Keine Ungerechtigkeit darf unsere Liebe beeinträchtigen. Leidet dein Feind, so nimm teil an seinem Leide; wenn es ihm wohl ergeht, so freue dich und wünsche ihm Vermehrung seines Glückes. Bietet sich dir Gelegenheit zu einer Dienstleistung, so komme ihm zu Hilfe. Begegne ihm allezeit mit Höflichkeit. Sprich nur Gutes von ihm und beklage dich nicht, wenn er ungerecht gegen dich vorgeht. Und wenn du selbst mit ihm zu sprechen hast, tue es mit Sanftmut und Wohlwollen. Bete für ihn, bitte Gott aufrichtig um seine Bekehrung, um Barmherzigkeit und um das Heil seiner Seele.

Solche Gesinnung verlangt Jesus von seinen Jüngern. Er will, daß wir durch unerschöpfliche Liebe alle Feindschaften aus unserer Mitte verbannen. Wenn jemand uns beleidigt hat, so legen wir unsere Angelegenheit in Gottes Hand und bemühen uns, in christlicher Liebe zu verzeihen.

Bedenke außerdem, daß unsere Feinde uns meist wegen zeitlicher Güter angreifen, die ja eher ein Hindernis sind für unsere Heiligung. Aus dieser Sichtweise heraus solltest du jene nicht als Feinde betrachten, welche dir lediglich irdische Güter streitig machen wollen. Nur jene sind Feinde, die uns wirklich Böses zufügen. Aber auch dies tun sie nur durch die Zulassung Gottes und werden so zu Werkzeugen seiner Gerechtigkeit, die unsere Sünden straft. Mache dir bewußt, daß du Gott nicht vollkommen lieben kannst, wenn du die Werkzeuge seiner Hand hassest.

Vergiß nicht, daß auch Gott uns geliebt hat, als wir durch die Sünde noch seine Feinde waren! Gott hat uns durch die Gnade zu seinen Kindern gemacht und uns durch dieselbe Gnade befähigt, ebenso jene zu lieben, die uns keine Zuneigung erweisen.

 

II Jesus ladet seine Jünger ein, gütig zu sein nach dem Vorbilde Gottes

«Seid Kinder eures Vaters, der im Himmel ist, der seine Sonne über die Guten und Bösen aufgehen läßt und regnen läßt über Gerechte und Sünder. Denn wenn ihr nur jene liebt, welche euch lieben, welchen Lohn werdet ihr haben? Tun das nicht auch die Zöllner? Seid also vollkommen, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist!»

Betrachte den Beweggrund für die vollkommene Liebe, den der Heiland hier angibt. Wenn du die Verpflichtungen, die Er auferlegt, zu schwer findest, so erhebe dein Herz zu dem Ideal, das Er dir vorhält. Die Gnade des Evangeliums erhebt dich über die menschliche Armseligkeit und läßt dich teilnehmen an dem Leben Gottes. Aus Gott leben heißt, seine Neigungen, Gewohnheiten und Sitten nach seinem Vorbild einrichten. Du bist ein Kind Gottes; so lebe denn aus dem Leben, das du von deinem himmlischen Vater erhalten hast. Übe dich darin, zu handeln, zu urteilen und zu wollen wie Er. Durch das Streben nach Gleichförmigkeit mit Gott im Wollen, Urteilen und Handeln wirst du Ihm ähnlich in allem.

Was tut dein himmlischer Vater? Viele Menschen lästern seinen heiligen Namen, mißbrauchen seine Wohltaten, um Ihn zu beleidigen, verachten seine allerhöchste Autorität und setzen sich über die Wunder seiner Barmherzigkeit hinweg. Und dennoch hört Gott nicht auf, auch diesen Undankbaren das Leben zu erhalten. Er spendet ihnen wie früher seinen reichen Sonnenschein und umgibt sie mit der Sorge seiner väterlichen Vorsehung. Er zieht sich nicht von ihnen zurück, unterbricht niemals sein wohltätiges Wirken für sie und in seiner Liebe vergilt er oftmals das Böse mit Gutem.

Sei gütig wie Er. Nur dadurch verdienst du dir den Namen eines Christen, dessen Hauptcharakterzug die Güte sein soll. Aber wie wird man gut? Bitte Gott um seine Liebe, und du wirst gütig sein wie Er!