73. Von der brüderlichen Liebe und Eintracht

(Mt 5, Lk 12)

 

I Jesus droht allen, die dem Nächsten zürnen, mit einem unerbittlichen Strafgericht

«Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten! Wer tötet, soll dem Gerichte verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gerichte 1 verfallen.»

Knie demütig zu Füßen des göttlichen Lehrers nieder und höre, was Er von seinen Jüngern verlangt. Er will das menschliche Herz von Grund auf umwandeln. Wir sollen in den Zustand zurückkehren, den wir nach Gottes Willen nie hätten verlassen sollen.

«Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Der Mord ist ein Verbrechen. Ich aber sage euch: Ein Mörder vor Gott ist jeder, der seinem Bruder zürnt, ihm Böses wünscht oder Rachepläne gegen ihn schmiedet.»

Hiermit verdammt der Heiland die Handlungsweise gar vieler. Auch du mußt zugeben, daß du es bis jetzt wenig ernst genommen hast mit dieser Lehre Jesu, da du dich noch so häufig der Erregung und dem Zorne überläßt. Welchen Zorn verdammt Jesus? Das ungeordnete Auflodern der Empfindlichkeit, das dazu drängt, dem Nächsten zu schaden und ihm Böses mit Bösem zu vergelten. Nicht jede Regung des Unwillens ist also mit diesen Worten Jesu verurteilt. Es gibt auch eine heilige Entrüstung, die dem Eifer für die Ehre Gottes und für das Wohl des Nächsten entspringt. Der Heiland selbst hat uns hierin ein Beispiel gegeben. Aber Er will unter seinen Jüngern keinen Zorn dulden, der die Liebe verletzt. Wollte man diesen als erlaubt und gerechtfertigt hinstellen, so würde man das Evangelium fälschen.

Bedenke auch, daß der unbeherrschte Zorn dich hinreißt zu lieblosen Worten und noch Schlimmerem und daß dadurch auch im Nächsten Böses geweckt wird. «Das Schweigen beruhigt den Zorn», sagt die Heilige Schrift. Wenn du also aufgeregt wirst, so sprich kein Wort! Dies ist das Mittel, das innere Feuer zu ersticken, um dadurch weder dir noch dem Nächsten zu schaden.

Stimme dieser Wahrheit von Herzen bei. Erforsche dein Gewissen. Beklage die Ausbrüche deiner üblen Laune, unter denen deine Umgebung so sehr zu leiden hat. Bitte Jesus, dein Herz nach dem seinigen zu gestalten, alle Bitterkeit darin zu unterdrücken, allen Groll zu besänftigen und alle Feindseligkeit auszurotten. Erneuere dich in der Liebe des göttlichen Herzens Jesu.

1 Das Gericht wurde in jeder Stadt aus den Priestern und Familienältesten gebildet. Darüber stand ein hoher Gerichtshof, der hohe Rat oder das Synedrium, das aus 72 Mitgliedern bestand und seinen Sitz in Jerusalem hatte; es verhandelte die wichtigen Fälle und hatte in letzter Instanz zu entscheiden.

 

II Jesus belehrt seine Jünger über die Notwendigkeit der Versöhnung und der brüderlichen Eintracht

«Wenn du also deine Opfergabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar, geh zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.»

Jesus beschließt seine Belehrung also: «Wenn du deinem Nächsten irgendein Leid zugefügt, etwas gegen ihn gesagt oder getan oder seinem guten Rufe geschadet hast, so versprich, den Schaden wiedergutzumachen. Hat man aber dir Böses getan, so sei bereit zu verzeihen.»

Wenn es uns an Nächstenliebe mangelt, hat Gott an keinem unserer Werke ein Wohlgefallen. Das Opfer unserer Empfindlichkeit ist Ihm angenehmer als die Darbringung äußerer Gaben; das versichert uns der Erlöser. Wie kannst du auch glauben, Gott, deinen Vater, zu versöhnen, wenn du nicht im Frieden lebst mit seinen Kindern, deinen Nächsten? Die Stimme der Zwietracht erstickt die Stimme des Gebetes. Nicht deine Gabe will der Herr, sondern dich selbst. Und die Gabe deiner selbst verliert vor Gott all ihren Wert, wenn Haß und Zorn dich beherrschen. Wenn du dem Herrn ein Opfer bringst, dabei aber Rachsucht in deinem Herzen nährst, so nimmst du mit der einen Hand wieder zurück, was du mit der andern Gott dargebracht hast.

Bedenke, daß der Heiland uns zur Versöhnung auffordert, bevor wir Ihm ein Opfer darbringen. Es ist doch vernünftig, seine Schulden zu bezahlen, bevor man großzügige Spenden macht. Unser Herr ist der Anwalt des Nächsten und verteidigt dessen Rechte. Deshalb weist Er den Unversöhnlichen zurück, damit er seine Sache wiedergutmacht, bevor er Ihm am Altar das Opfer darbringt. Leuchtet dir diese Wahrheit ein? Wenn also der Herr von dir diese Versöhnung fordert, könntest du sie Ihm verweigern? Wenn du deinen Bruder in Gott betrachtest und Gott in ihm siehst, wird es dir leicht fallen, ihm mit herzlicher Liebe zu verzeihen.

Wenn du betest und Gottes Barmherzigkeit um Verzeihung deiner Sünden anflehst, so denke an diese Lehre. Unter den Jüngern Jesu darf niemals Zwietracht herrschen.

Der göttliche Meister fügt noch andere Belehrungen bei, die du zu Herzen nehmen sollst. «Verständige dich ohne Verzug mit deinem Gegner, solange du noch mit ihm unterwegs bist. Sonst könnte dich der Gegner dem Richter übergeben und der Richter dem Gerichtsdiener, und man würde dich dann in den Kerker werfen.» Jesus will, daß der Geist der Liebe jede Uneinigkeit ausgleiche. «Verständigt euch ohne Zögern», sagt Er, «mögt ihr gegenseitig auch noch soviel wiedergutzumachen haben. Laßt nicht zuerst das Gericht zwischen euch treten. Entsagt allen rachsüchtigen Plänen; verabscheut die Prozesse. Seid euch selber Richter, damit ihr schonungsvoll urteilt!» In allen Rechtsforderungen läßt sich der wahre Jünger Christi nur vom Geist der Liebe leiten, die seinen göttlichen Meister beseelte. Ziehe Nutzen aus diesen kostbaren Lehren!