71. Der erste Teil der Bergpredigt — Die acht Seligkeiten

(Mt 5, Lk 6)

 

IV. Betrachtungen über die Worte des Vaterunsers

 

Die dritte Seligpreisung

«Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden!»

Durch diese Worte belohnt unser Herr die Tränen des Herzens, besonders die Tränen der Liebe. Es können Tränen der Trauer sein über den Verlust eines lieben Menschen, über das schmerzliche Zusehen-Müssen, wenn Angehörige in Not geraten oder gar den Glauben verlieren. Eine Ursache unserer Tränen sollen auch die Sünden sein, die wir begangen haben. Selbst wenn sie schon vergeben, sind wir selig, wenn wir sie noch beweinen, denn wir zeigen so, daß wir Gott lieben.

Bedenke auch, daß die gläubigen Seelen oft weinen wegen der Sünden, die andere gegen Gott begehen, der aller Liebe würdig ist. Durch die Sünden wird Gott, das höchste Gut, beleidigt und die Seelen werden ins Elend verstrickt. Das war auch der Grund für die bitteren Tränen Jesu, den man öfters solche Tränen des Schmerzes, Tränen des Mitleids und der Liebe gegen die Sünder weinen sah. Wirf im Geiste einen Blick auf die vielen Sünden und Verbrechen, die man heute gegen Gott begeht. So wird die Liebe zu Gott und zum Nächsten auch dein Herz zu Tränen bewegen.

 

Die vierte Seligpreisung

«Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden!»

Durst nach Gerechtigkeit bedeutet Durst nach der Tugend der Heiligkeit. Wie unglücklich wärest du, wenn du nicht diesen Durst hättest, denn das Verlangen nach Heiligkeit ist ein Zeichen der Auserwählung. Erwecke in deinem Herzen dieses Verlangen und betrachte alle andern Wünsche als zweitrangig, weil dem gerechten und tugendhaften Menschen nichts mangeln wird.

Bedenke auch, daß dieses Verlangen lebendig sein muß, da unser Herr es Hunger und Durst nennt. Es ist also ein dringendes Streben, das nicht nachläßt und sich nicht ablenken läßt, das im Gegenteil immer mehr wächst angesichts des ersehnten Zieles und alles daran setzt, dieses zu erreichen. Deine Trägheit und Nachlässigkeit sind ein Beweis, daß dieses Hungern und Dürsten in dir zu schwach ist. Du kennst anscheinend nicht den Wert dieser Tugend, welche dir mangelt und doch so notwendig wäre für dich.

Welch ein Glück empfindet der Mensch, wenn seine Wünsche erfüllt sind. Das Verlangen nach der Heiligkeit wird sicher erfüllt, wie es unser Herr durch sein Wort verheißt. Woran mag es liegen, daß du noch nicht vollkommen bist? Es kommt daher, daß du viele Dinge wünschest, nach denen du nicht verlangen solltest, und daß du zu wenig nach dem verlangst, das Gott dir schenken würde, wenn du es nur richtig ersehntest.

 

Die fünfte Seligpreisung

«Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!»

Betrachte das große Geschenk, das Jesus Christus mit diesen Worten jenen verheißt, die barmherzig sind. Alle wahre Freude des Menschen in dieser Welt und auch die Glückseligkeit im Himmel, alle Gnaden, die wir empfangen, und die Verherrlichung, die wir erhoffen, alles ist eine Frucht der göttlichen Barmherzigkeit. Mache dir bewußt, wie sehr du der göttlichen Barmherzigkeit bedarfst, denn ohne sie kannst du nichts erhoffen. Suche deshalb die Mittel zu ergreifen, welche dir diese erlangen können.

Bedenke, daß die göttliche Barmherzigkeit jenen verheißen ist, welche selbst Barmherzigkeit gegen ihre Mitmenschen üben. Sie besteht in einem inneren Mitfühlen mit dem Elend des Nächsten und in der tätigen Hilfe, die man ihm erweist. Dafür darf der Barmherzige von Gott als Belohnung zuversichtlich innere und äußere Gnaden und auch die göttliche Barmherzigkeit für sich erhoffen. Unser Herr Jesus Christus betrachtet nämlich das Gute, das wir dem Nächsten erweisen, als für Ihn getan. Bemühe dich, in deinem Mitmenschen Jesus zu sehen, so wirst du eine herzliche Liebe für ihn haben. Staune auch über die Güte des Sohnes Gottes, der dein Schuldner sein will für das wenige, das Er auf diese Weise von dir empfängt, obwohl du Ihm ja nie das vergelten kannst, was du Ihm schuldest.