71. Der erste Teil der Bergpredigt — Die acht Seligkeiten

(Mt 5, Lk 6)

 

III Betrachtungen über die einzelnen Seligkeiten1

1 Betrachtungsgedanken aus Meditations ascetiques, par le R.P. Joseph de Dreux, N.-D. du Pointet, F-03110 Broüt-Vernet.

 

Die erste Seligpreisung

«Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich!»

Unser Herr Jesus Christus beginnt seine große Predigt, indem Er die Seligkeit mit der Armut verbindet, obwohl die Welt die Armut als das größte Übel betrachtet. Wem von beiden wirst du glauben? Da die Worte des Heilands unfehlbar sind, glaube Ihm, daß die Armut seligmachend sein kann und daß Er in seiner Allmacht das bewirkt, was Er verspricht.

Bedenke, daß diese Seligkeit nur jenen verheißen ist, die im Geiste arm sind, die, um mit dem hl. Paulus zu sprechen, die Dinge benützen, als hätten sie sie nicht. Die Armut im Geiste ist ein inneres Glück, ein Herzensgut, das nicht von äußerem Besitz abhängt. Daher ist für diese Seligkeit die innere Losschälung von den Gütern dieser Welt gefordert. Der hl. Johannes vom Kreuz sagt: «Das bloße Entbehren der Dinge macht die Seele nicht frei, wenn die Anhänglichkeit das Ersehnte festhält. Nicht die Dinge dieser Welt nehmen die Seele ein und schädigen sie, denn sie dringen ja nicht in ihr Inneres, wohl aber das Verlangen und die Begierde nach ihnen, die in ihr wohnen.»

Im Zustand der inneren Losschälung von irdischen Gütern ist man glücklich, denn man lebt ohne Unruhe und Besorgnis, weil man sich ganz in der Vorsehung Gottes geborgen weiß. Man wird so durch nichts gehindert, Gott aus ganzem Herzen zu besitzen. Prüfe dich, ob du dich wirklich von deinem Besitz freimachen kannst. Beschäftigst du dich nicht zu sehr in deinen Gedanken und mit der Liebe deines Herzens mit den Dingen, die du besitzest? Auch wenn du nur wenig dein eigen nennst, dich aber an dieses wenige klammerst, wäre dies ein Hindernis für das göttliche Wirken und die Seligkeit in deinem Herzen.

Dabei ist zu beachten, daß Jesus von der Armut sprach und nicht von Not und Elend, denen wir wehren müssen. Auch hat Er mit der Armut im Geiste nicht eine geistige Beschränktheit angesprochen. Im Sinne Jesu betrachtet, erhält die Armut im Geiste eine Erhabenheit, die Zeichen der Auserwählten ist, jener, die sich entfernt haben von dem, was so oft die Ursache von Sünden ist. Durch ihre bereitwillige Armut üben sie heldenhafte Tugend. Wenn du nach dem Paradies verlangst, so schätze auch diese Losschälung hoch. Sie gibt ein Anrecht auf dieses erhabene Glück. Sind dir die Tugendkraft in dieser Welt und die Verherrlichung im ewigen Leben nicht mehr wert als alle Reichtümer dieser Welt? Nun, um jene zu erlangen, braucht es die geistige Armut, wie es unser Herr Jesus Christus lehrt. Sie führt uns zu jener Freiheit, die Er uns gebracht hat. Herr, schenke mir die Gnade, mich von den irdischen Gütern innerlich zu lösen und sie so zu benützen, daß ich die himmlischen nicht verliere.

 

Die zweite Seligpreisung

«Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen!»

Die milde Güte der Sanftmut hat ihren Grund in der Unterwerfung des Herzens gegenüber den Anordnungen der göttlichen Vorsehung und im vollkommenen Gleichmut des Geistes bei Erfolg und Mißerfolg. Dein unüberlegtes Reagieren, deine Ungeduld oder gar Heftigkeit sind der Sanftmut ganz entgegengesetzt. Diese Tugend bewirkt aber die Seligkeit, während dich ihr Mangel unglücklich macht!

Betrachte das Glück eines sanftmütigen Menschen. Seine Zufriedenheit ist nicht von andern abhängig, denn er beugt sich ganz dem Wirken Gottes. In der Beherrschung seiner Wünsche ist man im Besitz seiner selbst. Trete nicht aus dir heraus und suche nicht die Freude in äußeren Dingen, sondern unterwirf deinen Willen dem lieben Gott, der in deinem Herzen wohnt; dann wirst du alles haben, was dir zur Zufriedenheit notwendig ist.

Mache dir auch bewußt, daß das Besitzen des Landes, welches den Sanftmütigen verheißen ist, die geheimnisvolle Macht bezeichnet, welche man über die Herzen der Menschen gewinnt. Der göttliche Heiland hat die Welt durch seine milde Güte erobert. Durch dieselbe Tugend wird der Christ die Achtung und Liebe selbst seiner Feinde gewinnen, und so wird er das Land der Lebendigen, den Himmel, besitzen. Der von Christus geforderte Friede mit deinen Mitmenschen, den du in deinem Herzen tragen sollst, ist die Voraussetzung zur Erlangung dieser Seligkeit.