Das zweite Jahr des öffentlichen Lebens Jesu

 

63. Die Heilung des achtunddreißigjährigen Kranken

(Joh 5)

 

I Jesus kommt nach Jerusalem und begibt sich zum Teich Bethesda

Danach war ein Fest der Juden,1 und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. In Jerusalem liegt am Schaftor ein Teich 2 mit fünf Hallen, der auf hebräisch Bethesda heißt. In diesen lag eine große Menge von Kranken, Blinden, Lahmen und Abgezehrten. Sie warteten auf die Wallung des Wassers.

Ziehe mit dem göttlichen Meister in die heilige Stadt ein und folge Ihm zum Teich Bethesda.3 Welche Gedanken mögen Ihn beschäftigen, welche Pläne mag Er entwerfen? Suche in seine Gedanken einzudringen, indem du beobachtest, was vor deinen Augen geschieht.

Siehe die Menge von Leidenden, welche die Hoffnung auf Genesung hierher geführt hat und in der Nähe des heilbringenden Wassers zurückhält. Ihre Gebrechen sind so recht ein Bild von dem Elend der gefallenen Menschheit. Alle menschliche Armseligkeit ruft zu Gott um Erbarmen. Der Sohn Gottes hat diesen Ruf gehört. Die Sünder sollen ein Mittel finden, die Gesundheit ihrer Seele wiederzuerlangen; Jesus bringt es ihnen. Was die göttliche Barmherzigkeit im Alten Bund nur angedeutet hat, bringt der Heiland zur Vollendung. Er schenkt uns immer von neuem die Gnade der Versöhnung. Danke deinem himmlischen Vater dafür und suche alle, die an der Seele krank und in den Banden der Sünde verstrickt sind, dieser Gnade teilhaftig zu machen.

1 Es war dies wahrscheinlich das Osterfest, das zweite während des öffentlichen Lebens Jesu. Wir sind also Ende März, Anfang April im 28. Jahre nach Christi Geburt.

2 Der Schafteich war nahe beim Tempel. Er ist jetzt zu Dreiviertel ausgefüllt.

3 An seiner Westseite bemerkt man noch heute zwei lange, gleichlaufende gewölbte Gänge; aber sie sind zum Teil verbaut, so daß sie nur in einer Länge von etwa fünfzig Schritt benutzbar sind.

 

II Jesus erblickt den verlassenen Kranken und bietet ihm die Heilung an

Da lag nun ein Mann, der schon achtunddreißig Jahre krank war. Als Jesus ihn daliegen sah und erfuhr, daß er schon lange Zeit sein Leiden hatte, fragte Er ihn: «Möchtest du gesund werden?» Der Kranke antwortete: «Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich hinabbringt, wenn das Wasser aufwallt. Bis ich komme, steigt schon ein anderer vor mir hinab.»

Welches sind die Bevorzugten des Herzens Jesu? Bei diesem Wunder kannst du es erfahren. Jesus erweist sich als Freund der Verlassenen. Er findet sich mit Vorliebe bei denen ein, die von den Menschen nichts mehr zu erwarten haben.

Siehe, wie Er sich zu dem elenden Lager niederbeugt, auf dem der Kranke schon seit Jahren die heftigsten Schmerzen in gänzlicher Verlassenheit erduldet hat. «Willst du gesund werden?» fragt Jesus den Kranken. «Willst du den freien Gebrauch deiner Glieder wiedererlangen und von deiner langjährigen Schwäche befreit werden? Ich will dir dazu verhelfen.»

Willst du? — Beachte wohl, zur Heilung ist also das Wollen notwendig. Jesus bietet Heilmittel an; du mußt sie aber benützen wollen. Er schreibt Verhaltungsmaßregeln vor; du mußt sie beobachten wollen. Er heilt nur diejenigen, die geheilt werden wollen, und Er führt nur diejenigen in den Himmel ein, die in den Himmel kommen wollen.

Vernimm die traurige Antwort des Kranken: «Ich habe niemanden. — Ich will, aber ich kann nicht. Ich kenne mein Übel, ich leide darunter, aber ich weiß mir nicht zu helfen.» In der Tat bedürfen alle, die guten Willens sind, eines Führers, einer Stütze. Eine Seele ohne Leitung bleibt im geistlichen Leben zurück. Der arme Kranke kam jedesmal zu spät zum heilenden Wasser. Verstehst du die Notwendigkeit dieser Hilfe? Beraubst du dich derselben nicht durch eigene Schuld?

 

III Jesus heilt den Kranken und ermahnt ihn zur treuen Mitwirkung mit der Gnade

Da sprach Jesus zu ihm: «Steh auf, nimm dein Bett und geh umher!» Sogleich ward der Mann gesund, nahm sein Bett und ging umher. Es war aber Sabbat an jenem Tage.

Sieh, wie sich die Heilung des Kranken vollzieht. Der Kranke will genesen und ist bereit, alle Mittel zu gebrauchen, die ihm angegeben werden. Sein Wille ist in der Krankheit erstarkt, nichts scheint ihm unmöglich, das genügt dem Erlöser. Jesus findet guten Willen, mehr braucht Er nicht. Seine Allmacht wird das Übrige tun.

«Steh auf!» befiehlt Er ihm, «stehe auf und wandle! Du ersehntest das Ende deiner Leiden, du begehrtest einen Erlöser. Dein Gebet ist erhört. Ich bin vom Himmel gekommen, um dir zu helfen!»

Und der Kranke stand auf und ging. — Wohin geht er? Zum Tempel. Weshalb? Um Gott für die empfangene Wohltat zu danken und Ihm zu versprechen, einen guten Gebrauch davon zu machen. Er ist sich bewußt, daß er durch den Gnadenerweis des Himmels zum Schuldner Gottes geworden ist. Wie soll er seine Schuld abtragen? Jesus, dem er im Tempel begegnet, belehrt ihn darüber. «Fliehe die Sünde!» spricht der Herr. «Suche dich durch großmütige Treue gegen das göttliche Gesetz auszuzeichnen. Das ist alles, was Gott von dir verlangt.» — Bedenke, was du selbst von Gott empfangen hast, und erwäge, was Er von dir als Gegengabe erwartet.