217. Die Auferweckung des Lazarus

(Joh 11)

 

I Die Klage der Maria

Mit diesen Worten ging sie weg, rief ihre Schwester Maria und sagte ihr leise: «Der Meister ist da und ruft dich.» Kaum hatte jene das gehört, da erhob sie sich rasch und ging zu Ihm. Sobald Maria an den Ort kam, wo Jesus war, und Ihn sah, fiel sie Ihm zu Füßen mit den Worten: «Herr, wärest Du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben.»

Martha eilt zu ihrer Schwester Maria, um ihr schnell die frohe Nachricht von der Ankunft des Herrn zu bringen und ihr zu versichern: «Seine Liebe zu uns hat nicht abgenommen, seine Wunderkraft ist nicht geschwächt. Er hat von der Auferstehung der Toten gesprochen. Er läßt dich rufen; Er weiß, wie sehr du leidest, und will dich trösten.» Teile die Freude Marias über diese Worte! Es wurde ihr gewiß nicht schwer, sich den menschlichen Trostworten ihrer Freunde zu entreißen. Begleite sie auf ihrem Weg zum Heiland, und sieh, wie sie sich demutsvoll Ihm zu Füßen wirft, Ihn anbetet und mit Ihm spricht. Zur Zeit des Trostes begnügte sie sich damit, Ihm zuzuhören; aber jetzt, da die Trübsal über sie hereingebrochen ist, spricht sie Ihn an: «Herr, wärest Du hier gewesen!» Sie redet gerade wie ihre Schwester. Obgleich der Heiland sie größerer Vertraulichkeit gewürdigt hat, so bleibt diese Prüfung doch ein Geheimnis für sie. Sie begreift nicht, wie Jesus sie so leiden lassen kann, und klagend fragt sie: «Meister, warum bist Du nicht gekommen?» Jesus antwortet nicht, Er ist gerührt und nimmt teil an ihrem Schmerz. Vereinige dich in schweigender Anbetung mit Maria, deren Herz um den verstorbenen Bruder weint und dennoch weder in Worten noch in Tränen Bitterkeit äußert. Trotz ihres Kummers sind ihr Glaube und ihr Vertrauen stark und lebendig, ihre Liebe glühend. Suche aus ihrem Beispiel für deine Seele Nutzen zu ziehen!

 

II Jesus am Grab des Lazarus

Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, wurde Er innerlich tief ergriffen und erschüttert. Er fragte: «Wo habt ihr ihn hingelegt?» Sie erwiderten Ihm: «Herr, komm und sieh!» Jesus brach in Tränen aus. Da sagten die Juden: «Seht, wie lieb Er ihn hatte!»

Trauer herrscht in den Herzen aller, die bei Jesus weilen. Betrachte deinen Heiland im Umgang mit den Betrübten. Da ist Er so ganz an seinem Platz; denn sein himmlischer Vater hat Ihn auf die Erde gesandt, um allen Trauernden Trost und Hilfe zu bringen. Er blickt sie an, Er hört ihnen zu, und Er empfindet mit ihnen. Jesus ist wahrhaft einer der Unsrigen geworden und hat unsere Schmerzen zu den seinen gemacht.

«Wo habt ihr ihn hingelegt?» fragt er die Juden. «In dem Verstorbenen, den ihr so schmerzlich beweint, habe auch ich einen Freund verloren.» Und sie fordern Ihn auf: «Komm und sieh.»

Geh mit Jesus zum Grab. Zeige Ihm, was der Tod aus dem Menschenleben macht, wie grausam er uns diejenigen entreißt, die wir lieben, und mit welcher Geringschätzung er alle Größe, alle Schönheit, allen Reichtum in Staub und Fäulnis verwandelt. Erinnere den Heiland an all die Tränen, die Schmerz und Leid den Menschen erpreßt, an all die Klagen, die unaufhörlich aus gequälten Menschenherzen zum Himmel steigen. Sprich zu Ihm: «Meister, komm und sieh, heile unsere Wunden und trockne unsere Tränen.»

Und Jesus brach in Tränen aus. Das ist seine Antwort. Seine Tränen sollen dir beweisen, daß Er an deinem Kummer innigen Anteil nimmt und deinen Schmerz lindern will. Du möchtest, daß Er dich und die Deinen vor dem Tod, dieser Folge der Sünde bewahre. Jesus hingegen bittet dich durch seine Tränen, der Sünde, dieser Ursache des Todes, zu entsagen.

Sieh wie Er weint! Knie schweigend vor den Heiland hin, laß seine Tränen einem erquickenden Tau gleich in deiner Seele alles Gute beleben. Frohlocke, weil du die Gewißheit hast, daß das reinste und zärtlichste aller Herzen dich liebt! So wie Er Lazarus und seine Schwestern liebte, so liebt Er dich.

 

III Jesus erweckt den Lazarus

Jesus gebot: «Hebt den Stein weg!» Martha, die Schwester des Verstorbenen, entgegnete Ihm: «Herr, er riecht schon. Er liegt ja bereits vier Tage.» Jesus erwiderte ihr: «Habe ich dir nicht gesagt: Du wirst die Herrlichkeit Gottes sehen, wenn du glaubst?»

Verfolge das große Wunder der Totenerweckung in all seinen Einzelheiten. Der himmlische Vater will seinen eingeborenen Sohn vor allem Volk verherrlichen. Die göttliche Allmacht ist bereit, das Werk, das der Tod vernichtet hat, wieder herzustellen. Die Betrübten sollen getröstet werden, denn der Tote wird auferstehen. Er wird die Stimme des Menschensohnes vernehmen, der im Auftrag seines Vaters spricht.

Jesus befiehlt den Juden: «Hebt den Stein weg!» Und Jesus beginnt zu beten, um uns zu zeigen, daß alle Wunder, die Er wirkt, alle Kraft und alles Leben, die von Ihm ausströmen, eine Frucht des Gebets sind. — «Vater, ich danke Dir, daß Du mich erhört hast. Ich aber wußte, daß Du mich allezeit erhörst. Aber wegen des Volkes, das dabeisteht, habe ich es gesagt, damit es glaube, daß Du mich gesandt hast.» Jesus lehrt dich, wie du beten sollst, wenn du von der göttlichen Allmacht ein Wunder begehrst. Ehe Er seine Bitte stellt, bringt Er der göttlichen Güte seine Huldigung dar. Beachte ferner, daß der Heiland durch dieses Wunder uns im Glauben befestigen will! Die Bedeutung der Wunder besteht darin, uns von seiner Gottheit zu überzeugen. Er wirkt sie keineswegs, um die Neugier der Menschen zu befriedigen.

Als Er dies gesagt hatte, rief Er mit lauter Stimme: «Lazarus, komm heraus!» Und sogleich kam der Verstorbene heraus, gebunden mit Grabtüchern an Händen und Füßen, und sein Angesicht war mit einem Schweißtuch bedeckt. Da sprach Jesus zu ihnen: «Macht ihn los und laßt ihn gehen.» — Vernimm die Stimme des göttlichen Meisters, die dem Tod gebietet, und betrachte denjenigen, der von den Gefilden der Ewigkeit zurückgerufen wurde! Noch ist sein Haupt mit einem Schweißtuch umhüllt, und seine Hände und Füße sind in Grabtücher eingebunden, aber in sein Antlitz kehrt das Leben zurück, er erhebt seine Stimme, um seinem Wohltäter zu danken. So steht Lazarus vor denen, die sein Hinscheiden so sehr beweint haben. Seine Auferstehung soll deinen Glauben beleben und dich bestärken in der Gewißheit, daß auch du einst zu ewigem Leben erstehen wirst. Nimm teil an der allgemeinen Freude und bitte den Sohn Gottes, daß Er dich heute noch von der Lauheit zu neuem Leben erwecken möge.