214. Von der christlichen Vollkommenheit

(Mt 19, Mk 10, Lk 18)

 

I Jesus zeigt dem reichen Jüngling den Weg zum Himmel

Ein Vornehmer richtete an Ihn die Frage: «Guter Meister! Was muß ich tun, um das ewige Leben zu erlangen?» Jesus antwortete ihm: «Du kennst doch die Gebote.»

Merke auf die Frage, die jener junge Mann dem Heiland stellt: «Was muß ich tun, um in den Himmel zu kommen? Du sprichst vom Himmelreich, und ich möchte gern dorthin gelangen, um das ewige Leben zu besitzen. Was muß ich tun, um dieses Ziel zu erreichen?»

Die Besorgnis um das ewige Heil sollte auch in uns alle anderen Interessen überwiegen. Die wahre Weisheit fragt nicht: «Was muß ich tun, um reich zu werden, um bei meinen Arbeiten und Geschäften Erfolg zu haben?» Sie begehrt nur zu wissen, welches der sicherste und kürzeste Weg zum Himmel ist. Über allen irdischen Sorgen dürfen wir das zukünftige Leben nicht vergessen. Da ich den Himmel besitzen will, muß ich auch für den Himmel arbeiten. Jesus selbst, der uns zum Himmel führen will, lehrt uns, was wir zu tun haben. Er sagt: «Halte die Gebote!» Diese Antwort zeigt uns, daß der Weg, der zur ewigen Seligkeit führt, leicht zu erkennen ist. Es handelt sich nur darum, die Gebote zu halten, die von einer rechtmäßigen Obrigkeit den Menschen gegeben worden sind. Diese Gesetze sind weder die Äußerungen tyrannischer Launen noch ein lästiger Zwang für die menschliche Freiheit, sondern der Pfad, auf dem wir zum Leben gelangen.

 

II Jesus zeigt ihm den Weg zur Vollkommenheit

Jener erwiderte: «Das alles habe ich von meiner Jugend an beobachtet.» Als Jesus das hörte, sagte Er zu ihm: «Eines fehlt dir noch: Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge mir!»

Die erste Antwort des Herrn genügte dem Jüngling nicht. Er besteht darauf zu erfahren, was ihm an der Vollkommenheit noch mangelt, und voller Eifer beteuert er: «Die Gebote habe ich stets gehalten. Aber ich fühle in mir das Verlangen und die Kraft, mehr zu tun. Was alle tun müssen, genügt mir nicht. Gibt es keine vollkommenere Lebensweise, als ich sie bisher geführt habe?»

Dem Heiland gefällt diese Rede, und liebevoll ruht sein Blick auf dem Jüngling. Sein Herz weitet sich vor Freude bei dem Gedanken, daß sich inmitten der Menge eine auserwählte Seele befindet, die großmütiger gesinnt ist als die übrigen, und Er ruft aus: «Mein Kind, wenn du wirklich danach verlangst, vollkommen zu werden, so will ich dir sagen, was du tun mußt.» — Das geistliche Leben nimmt seinen Ursprung in der treuen Beobachtung der Gebote, es entwickelt sich durch die Befolgung der evangelischen Räte und gelangt so zur Vollkommenheit. Die großmütige Seele legt sich freiwillig Fesseln an.

Höre, wie der göttliche Meister den ersten der evangelischen Räte in Worte kleidet und dessen Befolgung als Grundbedingung aufstellt für alle, die sich im Dienst Gottes auszeichnen wollen. «Sei arm.» sagt Er. «Löse dich von allem, was du besitzt, und dann folge mir. Wenn du dieses Opfer gebracht hast, dann werde ich dich weiterführen.» Das also fordert Jesus beim ersten Schritt auf dem Weg der Vollkommenheit. Hegst auch du das Verlangen, weiter darauf fortzuschreiten?

 

III Jesus beklagt die Willensschwäche des reichen Jünglings

Als der Jüngling dieses Wort gehört hatte, ging er traurig davon. Er hatte nämlich viele Besitztümer. Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: «Wahrlich, ich sage euch, ein Reicher wird schwerlich in das Himmelreich eingehen!»

Der Jüngling wird traurig bei den Worten des Heilands. Er hat zwar den Wunsch, vollkommen zu werden, aber ihm fehlt das ernste Wollen. Die Furcht vor dem Opfer hält ihn zurück auf dem Weg, den alle wandern, und er verzichtet darauf, sich auszuzeichnen.

Sieh, wie er seine Schwäche beklagt! Er erkennt besser als zuvor die Schönheit eines vollkommenen Lebens, aber er findet nicht den Mut, sich mannhaft dafür zu entscheiden. Er schämt sich seiner Feigheit, wie denn Trauer und Selbstvorwürfe stets der Anteil schwacher Seelen sind, die Freude entflieht zugleich mit dem Mut. Folge dem Jüngling mit den Blicken, und vergleiche die Reichtümer dieser Erde, die er nicht opfern will, mit den ewigen Schätzen, die er sich entgehen läßt. Er hat sein Herz an seine Güter gehängt und kann es nicht davon losreißen. Nur was man ohne Anhänglichkeit besitzt, verläßt man ohne Bedauern. «Wahrlich ich sage euch, ein Reicher wird schwerlich in das Himmelreich eingehen.» Lerne also beizeiten, den rechten Gebrauch von den Gütern zu machen, die Gott dir verliehen hat! Sie sollen dir, wie alles in der Welt, dazu dienen, das ewige Leben zu erwerben. Sie sollen dir ein Mittel sein, mache kein Hindernis daraus! Einigen auserwählten Seelen werden sie zum Gegenstand eines großmütigen Opfers, durch das sie Gott auf ganz vorzügliche Weise ehren und den unermeßlichen Reichtum seiner Liebe und Gnade auf sich herabziehen.