205. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (III)

(Lk 15)

 

I Der Unwille des älteren Sohnes

«Sein älterer Sohn war gerade auf dem Feld. Als er heimkam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. Er rief einen von den Knechten und erkundigte sich, was das zu bedeuten habe. Dein Bruder ist heimgekommen, antwortete ihm dieser. Nun hat dein Vater das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn gesund zurückerhalten hat. Da ward er zornig und wollte nicht hineingehen.»

Komm und nimm deinen Platz bei dem Freudenmahl ein! Der reumütige Sohn sitzt an der Seite seines Vaters und genießt das Glück der wiedergewonnenen Unschuld. Er hat erfahren, wo Wahrheit, Glück und Frieden zu finden sind, er wird sich nicht mehr täuschen lassen. Die Vergangenheit ist abgetan. Er soll sich ihrer nur erinnern, um die Güte seines Vaters zu preisen, der ihm so großmütig verziehen hat.

Doch die Festfreude wird gestört durch das Murren und den Widerspruch des älteren Bruders. Er versteht die Güte seines Vaters nicht und begreift nicht, warum er die Rückkehr seines Bruders so festlich begeht. Er sieht mit Neid und Ärger die Freigebigkeit seines Vaters gegen den unwürdigen Sohn. Höre, wie er sich beklagt, da der Vater nicht ihm zu Ehren Feste veranstaltet hat; er meint, als Lohn für seine Pflichterfüllung den ersten Anspruch darauf zu haben. Er fühlt sich in seinen Rechten verletzt, ihm erscheint es, als ob alles, was man seinem Bruder gibt, ihm selbst entzogen werde. Es kränkt ihn, daß sein Vater dem verlorenen Sohn die Versöhnung so leicht gemacht hat.

Dieser selbstgerechte Sohn ist in seinem Urteil streng;, hart und unerbittlich, weil er sich nicht in die Gefühle seines Vaters hineinzudenken vermag. Er weiß nicht, was es heißt, ein Kind zu verlieren, dem man selbst das Leben geschenkt hat, und er kann sich nicht vorstellen, welche Freude das Vaterherz erfüllt, als er den totgeglaubten wieder findet. Wir dürfen auch hier wieder erkennen, wie sehr Gott uns liebt!

 

II Der Anteil der Gerechten in dieser Welt

«Er erwiderte ihm: Mein Sohn, du bist immer bei mir, und all das Meinige ist dein. Es galt aber, ein Freudenmahl zu halten und fröhlich zu sein. Denn dieser dein Bruder war tot und lebt wieder. Er war verloren und ist wiedergefunden worden.»

Vernimm die Rechtfertigung des Vaters! «Mein Sohn, du bist immer bei mir! In der Arbeit, im Gebet, im vertrauten Umgang, im Erfolg und im Mißgeschick, in Freude und Leid bist du bei mir, und ich bin bei dir. Ich bin dein Führer und dein Beschützer, ich segne dich und helfe dir, des Tages Mühen und Last zu tragen, und keines deiner Opfer bleibt unbelohnt. Mein Haus ist dein Haus und alles, was ich besitze, gehört dir.»

Denke über diese Worte nach! In der Vereinigung mit Gott besteht schon hier auf Erden das Glück der Gerechten, und ihr Los gleicht dem der Seligen des Himmels. Hast auch du, wie dieser zweite Sohn, oft wieder vergessen, was für eine Gnade es ist, im Hause des himmlischen Vaters wohnen und Ihm nahe sein zu dürfen?

Du bist auf Erden, um hienieden schon das Leben der Auserwählten zu beginnen und dich durch deine Treue Ihrer Seligkeit würdig zu machen. Das Glück der treuen Seelen besteht gerade in ihrer Treue. Dieser Gedanke soll dir deine Lebenstage zum Fest gestalten. Gott ehrt dich, indem Er deine Dienste annimmt und deine Mühen segnet. Dies soll deine Freude sein, eine Freude, die Gott dir täglich von neuem schenkt, das einzige Gut, das du nur durch eigene Schuld verlieren kannst.

Erzeige dich deinem himmlischen Vater dankbar für das glückliche Los, das Er dir bereitet hat! Aller irdische Trost vergeht, aber die Freuden der auserwählten Kinder Gottes sind ewig. Dein einziger Ehrgeiz soll sein, dem lieben Gott sagen zu können: «Seitdem Du mir meine Sünden vergeben hast, habe ich nicht nachgelassen in Deinem Dienst und habe keines Deiner Gebote freiwillig übertreten. Dein heiliger Wille war stets die Richtschnur meines Handelns, und ich kann mich in Wahrheit dein treues Kind nennen.»