204. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (II)

(Lk 15)

 

I Die Reue des verlorenen Sohnes

«Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluß, und ich komme um vor Hunger!»

Suche noch einmal den verlorenen Sohn auf, dessen Undankbarkeit und Torheit du schon betrachtet hast! Erinnere dich, wie er in leichtsinniger Weise die Gaben Gottes mißbraucht und sich selbst ins größte Elend gestürzt hat! In diesem Zustand ruft er aus: «Ich gehe durch Hunger zu Grunde. Als ich hierher kam, träumte ich davon, in Reichtum und Überfluß zu leben und all meinen Neigungen und Liebhabereien frönen zu können, statt dessen habe ich nur Enttäuschungen und die äußerste Armut gefunden.»

Der verlorene Sohn hat Gott verlassen und sich von ihm entfernt. Was bleibt dem, der Gott verloren hat? Habe Mitleid mit dem Unglücklichen! Sieh, in welchen Abgrund er durch eigene Schuld gestürzt ist! Mache dir seine traurigen Erfahrungen zunutze, und lerne von ihm aufrichtige Reue über deine Sünden! Die Reue besteht darin, daß man seine Sünden verabscheut und wünscht, sie nie begangen zu haben. Das tut der verlorene Sohn. Das Übermaß seiner Leiden und Enttäuschungen ist der erste Anstoß dazu.

«Wie viele Tagelöhner im Haus meines Vaters haben Überfluß an Brot?» — Seine Gedanken schweifen zurück zum Vaterhaus, und es regt sich in ihm der Wunsch, es niemals verlassen zu haben. Es reut ihn, daß er den Lügenstimmen Gehör geschenkt, die ihn in die Fremde lockten. Er beginnt, seine Handlungsweise zu verabscheuen, und die wahre Reue bricht sich Bahn. — So geht es vielen Sündern; sie erinnern sich der Vergangenheit mit ihren reinen Freuden. Sie denken zurück an ihr stilles Glück, an den Frieden der Seele und an die Sorglosigkeit bezüglich der Zukunft. Das alles möchten sie wiederfinden und von neuem ihr Herz der Hoffnung erschließen.

 

II Die Heimkehr des verlorenen Sohnes

«Ich will mich aufmachen, zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Behandle mich wie einen deiner Tagelöhner. Er machte sich also auf und ging zu seinem Vater.»

Der Sünder möchte gern ins Vaterhaus zurückkehren. Wird aber der himmlische Vater ihn wieder aufnehmen? Diese Frage ist von der größten Bedeutung. Es genügt nicht, sich zu fragen, ob man seine Sünden bereut und wünscht, sie nie begangen zu haben. Es handelt sich vor allem darum, zu erfahren, ob der Fehler wieder gutgemacht werden kann, ob Gott bereit ist, unsere Reue anzunehmen, und ob seine Güte und Barmherzigkeit seiner Macht und Heiligkeit gleichkommen.

Das Gleichnis bringt dir diesen tröstlichen Beweis. Der verlorene Sohn verabscheut seinen Fehler und entschließt sich, ihn wieder gutzumachen. «Ich will mich aufmachen!» ruft er aus. «Was es auch kosten mag, ich will mein Unrecht wieder gutmachen, mein schändliches Leben aufgeben und mit meinen schlechten Gewohnheiten brechen. Ich will die Leidenschaften, die mich ins Verderben stürzten, bekämpfen und den Gelegenheiten zur Sünde entsagen. Offen und mutig will ich auf den Weg der Pflicht, der Tugend und Frömmigkeit zurückkehren.»

Wo wird er die Kraft zu diesem überaus schwierigen Unternehmen finden? In der Hoffnung, daß sein Vater ihm verzeihen wird! — «Ich will zu ihm eilen, ich will ihm meine Schuld bekennen und Besserung versprechen. Ich kenne ihn, ich weiß, wie gut er ist; er wird mich aufnehmen und diesem Elend entreißen.»

Danke dem verlorenen Sohn, daß er dich lehrt, mit Vertrauen dem himmlischen Vater entgegenzutreten, den du so oft beleidigt hast! Betrachte den Verirrten auf dem Rückweg zum Vaterhaus! Er ist so schwach, und der Weg ist so weit, seine Schritte wanken, aber er hofft, und die Hoffnung ist seine Stärke. Wenn er auch manches Mal fällt, so beharrt er doch bei seinem Entschluß. Folge seinem Beispiel!

 

III Die Aufnahme des verlorenen Sohnes im Vaterhaus

«Schon von weitem sah ihn sein Vater und ward von Erbarmen gerührt. Er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Der Sohn aber sagte zu ihm: «Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen.»

Sei Zeuge des Wiedersehens zwischen Vater und Kind, und du wirst die Größe der göttlichen Liebe erkennen. Seitdem der Sohn das Vaterhaus verlassen, hat der Vater unaufhörlich an ihn gedacht, er zählt die Tage und die Stunden und sehnt sich nach dem kleinsten Zeichen der Reue, um dem Verlorenen beim ersten Schritt zur Aussöhnung seine Liebe wieder zu schenken und ihn mit neuen Gütern auszustatten.

Sieh, wie der verlorene Sohn nach seiner Rückkehr am Vaterherzen ruht! Da bekennt er seine Schuld und Unwürdigkeit. Er hatte sich vorgenommen zu sagen: «Vater ich habe gesündigt», und er hält Wort. Sein Vater wünscht dieses Schuldbekenntnis, und dem reuigen Sünder ist es ein wahres Bedürfnis, diesem Wunsch zu entsprechen. Er verlangt nach einem teilnehmenden Herzen, dem er sich ganz anvertrauen kann. Und wo fände er mehr Liebe und Verständnis als bei seinem Vater? Höre, wie er sein Geständnis ablegt! Es befreit ihn von dem Druck seiner Schuld und bringt ihm Erleichterung, wie dem Kranken das Heilmittel. Sein Vater aber wird durch dieses reumütige Bekenntnis versöhnt. Gott verzeiht nur denen, die ihre Schuld erkennen und eingestehen. Dieses Geständnis soll die Aufrichtigkeit ihrer Reue beweisen, denn durch die Verdemütigung der Anklage wird der Stolz, die letzte Ursache jeder Sünde, gebrochen.

«Doch der Vater befahl seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an. Gebt ihm einen Ring1 an die Hand und Schuhe an die Füße. Dann holt das Mastkalb und schlachtet es! Wir wollen ein Freudenmahl halten und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war tot und lebt wieder, er war verloren und ist wiedergefunden. Und sie fingen an, ein Freudenmahl zu halten.» Nimm teil an der Freude des Vaters und an der Freude des Heimgekehrten, dem sein Vaterhaus wieder offen steht und der in alle Rechte der Kinder Gottes wieder eingesetzt wird! Bitte den himmlischen Vater, dir alles wieder zu geben, was du durch die Sünde verloren hast, und erfreue dich im Gedanken an die Glückseligkeit, die Er dir bereitet.

1 Nur die Freien und Vornehmen trugen einen Ring als Zeichen ihrer Würde. Dasselbe gilt von den Schuhen, da die Sklaven immer barfuß gingen.