203. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (I)

(Lk 15)

 

I Das Unrecht und die Undankbarkeit des verlorenen Sohnes gegen seinen Vater

Dann fuhr Er fort: «Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zum Vater: Vater, gib mir den Anteil am Vermögen, der mir zukommt. Er verteilte also das Vermögen unter sie.»

Bewundere vor allen Dingen die uneigennützige Güte des Vaters, von dem der Heiland redet, seine Freigebigkeit und liebevolle Sorge für seine Kinder. Dieser Vater hat alles hingegeben, bevor seine Söhne noch das Geringste verdienen konnten. Seine Gaben sind von höchstem Wert und haben ihn selbst viel gekostet. Er hat nichts gespart, um seine Kinder reichlich zu versehen.

Vergleiche die Undankbarkeit des Sohnes mit dieser übergroßen Güte, und verabscheue ein solches Betragen! Gib mir, was mir zukommt», sagt der Sohn. Er will mit seinem Vater, dem er alles verdankt, brechen. Er ist der Freuden des Vaterhauses überdrüssig geworden, die täglichen Pflichten scheinen ihm eintönig und die Arbeit ist ihm unerträglich. Seine Gedanken schweifen in die Ferne, das Unbekannte lockt seine Neugierde, die Leidenschaften sind erwacht und haben über alle besseren Regungen die Oberhand gewonnen. «Vater, gib mir mein Erbteil und meine Freiheit! Ich will mir mein Leben nach meinem Geschmack einrichten, da ich das Glück daheim nicht finde.» Diese Forderung schlägt dem Herzen des Vaters eine tiefe Wunde. Trotzdem hört er seinen Sohn an und erfüllt seinen Wunsch. Warum? Ja, warum läßt der himmlische Vater es zu, daß seine Kinder Fehltritte begehen, wenn nicht, um den Triumph seiner Barmherzigkeit um so glänzender zu gestalten?

 

II Der Mißbrauch, den der verlorene Sohn mit seinen Gütern treibt

«Wenige Tage später packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land. Dort verschwendete er sein Vermögen durch ein ausschweifendes Leben.» Folge dem mißratenen Sohn! Er hat sein Erbteil in Händen, aber er weiß es nicht zu schätzen. Er vergißt, daß sein Vater diesen Reichtum durch harte Arbeit und große Beschwerden erworben hat. Vergessen wir nicht auch allzu oft, daß unser himmlisches Erbteil den Schweiß und das Blut des Heilands gekostet hat? Was tut der Sünder mit diesen Gütern? Er benutzt sie, wie der verlorene Sohn, zur Befriedigung seiner Leidenschaften und sinnlichen Begierden und läßt seinem Verlangen nach Unabhängigkeit die Zügel schießen. Er will das Leben genießen, ohne an die Vergangenheit zu denken. Er zieht weit fort, um nur nichts zu hören oder zu sehen, was ihn an das Vaterhaus erinnert. Er will in der Ferne alles vergessen, was ihm ans Herz gelegt wurde, alle Wahrheiten, alle Warnungen und alle Lebensregeln. So handelt der Sünder. Sein Herz ist für die Liebe Gottes geschaffen und er entzieht es Ihm. Er gebraucht Gottes Gaben, um Ihn zu beleidigen. Liegt darin nicht der Höhepunkt menschlicher Undankbarkeit, und verdient ein solches Verhalten nicht die schwersten Strafen?

 

III Das Unglück des verlorenen Sohnes

«Als er alles durchgebracht hatte, entstand in jenem Land eine große Hungersnot, und er fing an zu darben. Da ging er hin und verdingte sich bei einem Bürger jenes Landes. Dieser schickte ihn auf seine Felder, die Schweine zu hüten. Gern hätte er seinen Hunger mit den Schoten gestillt, die die Schweine fraßen. Aber niemand gab sie ihm.»

Nachdem er allen seinen Leidenschaften gefrönt hat, erfährt der Sünder endlich, daß das Glück nicht in der Trennung von Gott zu finden ist, denn Gott ist das wahre Leben der Seele, und ohne dieses Leben kann der Mensch nicht glücklich sein. Noch niemand hat das Glück in der Befriedigung niedriger Leidenschaften gefunden.

Das Schicksal des verlorenen Sohnes bestätigt diese Wahrheit. Er hat das gesicherte Leben im Vaterhaus gegen eine ungewisse Zukunft eingetauscht, er hat trügerischen Stimmen Gehör geliehen, die ihn von seiner Pflicht abwendig machten und ihm vorgaukelten, das Glück sei in der Ferne. Aber was er fand, entsprach nicht seinen Erwartungen. Statt der ersehnten Befriedigung wurde ihm Überdruß zuteil. Er suchte Reichtum und leidet nun Hunger, er träumte von Unabhängigkeit und ist zum Knecht geworden, er sehnte sich nach Ehre und Ansehen vor den Menschen und wird mit Schmach und Schande überhäuft. Alle Gründe, auf die er sein Handeln stützte, beruhten auf Trugschlüssen und seine Träume waren Hirngespinste.

So tief fällt der Mensch, der sich von seinem himmlischen Vater lossagt. Welches Schicksal verdient er? Was verdienst du, wenn du die gleiche Torheit begehst? Denke in aller Demut über dein vergangenes Leben nach und vergleiche die unendliche Größe und Majestät Gottes mit der abgrundtiefen Niedrigkeit des Sünders! Lerne Selbsterkenntnis und Demut!