184. Jesus ruft das Wehe über die Gesetzeslehrer

(Lk 11,Mt 23)

 

I Jesus wendet sich gegen die heuchlerische Strenge der Gesetzeslehrer

Ein Gesetzeslehrer entgegnete ihm: «Meister, mit diesen Worten schmähst Du auch uns.» Da sprach Er: «Weh auch euch, ihr Gesetzeslehrer! Ihr bürdet den Menschen unerträgliche Lasten auf, selbst aber rührt ihr die Lasten nicht mit einem Finger an!»

Die Entrüstung des Heilands hat ihren Höhepunkt erreicht, denn sein Blick hat neue Schuldige entdeckt. Kühne Stimmen wagen zu sagen: «Mit diesen Reden schmähst du auch uns.»

Wer sind jene, die so reden? Es sind wissenschaftlich gebildete Männer, die eine rechtmäßige Autorität ausüben und sich großen Einflusses auf das Volk erfreuen. «Ja», antwortete Jesus, «wehe auch euch! Gott hat euch Verständnis der Heiligen Schrift, Autorität und Einfluß auf das Volk gegeben, damit ihr den Kindern Gottes ihre Lasten erleichtern sollt, und ihr macht sie ihnen im Gegenteil unerträglich, während ihr sie selbst nicht tragen wollt. Auch eure Frömmigkeit ist nur Heuchelei.» Nach Gottes Absicht sollen die Untergebenen in der Autorität ihrer Vorgesetzten eine Stütze finden, um sich im Guten zu befestigen und es leichter und freudiger zu üben. Auf dem Weg zum ewigen Leben soll die Autorität der einen den anderen Kraft und Schutz gewähren. So will es die göttliche Weisheit, aber diese unbarmherzigen Gesetzeslehrer haben dafür kein Verständnis. Statt den Seelen das Himmelreich zu eröffnen, verschließen sie es vor ihnen.

Hast du dir in dieser Hinsicht keine Vorwürfe zu machen? Erinnere dich an die Gelegenheiten, die Gott dir gegeben hat, um anderen den Weg der Tugend zu zeigen. Verlangst du trotz deiner eigenen Schwäche von deinen Mitmenschen nicht manchmal übermäßige Anstrengungen? Rufst du nicht durch allzugroße Strenge in den Herzen derer, die von dir Kraft und Ermutigung erwarten, tiefe Niedergeschlagenheit hervor?

 

II Jesus beschuldigt sie feiger Nachgiebigkeit

«Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr baut den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt: Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, so hätten wir uns an dem Blut der Propheten nicht mitschuldig gemacht. Damit bezeugt ihr selbst, daß ihr die Söhne von Prophetenmördern seid.»

Vernimm diesen neuen Vorwurf, der vielleicht auch dich trifft! Gehörst du nicht zu jenen, die alles Unrecht streng tadeln, die aber zu keinem Opfer bereit sind, um den angerichteten Schaden wieder gutzumachen? Es heißt gewissermaßen in die Schuld anderer einwilligen, wenn man deren Vergehen nicht hindert und sich ihnen nicht mit Freimut widersetzt. Wie verhältst du dich, wenn du erfährst, daß Unrecht geschehen ist und daß schweres Ärgernis gegeben wurde, durch welches unsterbliche Seelen Gefahr laufen, auf ewig verlorenzugehen? Bist du kühn genug, das Böse freimütig zu verdammen, unbekümmert darum, wer dessen Urheber war; oder hüllst du dich in feiges Stillschweigen? Durch diese schmähliche Nachgiebigkeit unterstützt du den Einfluß des Bösen. Wie oft hast du nicht andererseits im innersten Herzen Dinge und Vorkommnisse entschuldigt, die du niemals öffentlich zu verteidigen gewagt hättest? Gott weiß das, und deshalb verlangt der Sohn Gottes von dir, fortan ein solches Verhalten ernstlich zu verabscheuen.

 

III Jesus bedroht jene, die die Barmherzigkeit Gottes mißbraucht haben, mit der Strenge der göttlichen Gerechtigkeit

«So macht ihr das Maß eurer Väter voll. — So soll über euch kommen alles gerechte Blut, das auf Erden vergossen wurde. Wahrlich, ich sage euch: Dies alles wird über dieses Geschlecht kommen!»

Vernimm mit heiligem Schrecken die Drohungen der göttlichen Gerechtigkeit! «Gott wird Rechenschaft fordern von aller Sünde und Ungerechtigkeit. Jerusalem geht seinem Untergang entgegen, und das gottesmörderische Volk wird in alle Welt zerstreut werden.» Das Gottesgericht hat sich an ihnen vollzogen; aber auch für uns bleibt Gottes strenge Gerechtigkeit bestehen, und wir sind ihren Schlägen ausgesetzt. Hast nicht vielleicht auch du die Stellvertreter Gottes abgewiesen und ungerecht behandelt? Bitte den Heiland um Erbarmen! Decke Ihm den innersten Grund deiner Seele auf und laß Ihn Einblick tun in all die Sünden, all die Heuchelei und Schlechtigkeit, die du bisher so geschickt zu verbergen suchtest. Tritt deinen Stolz in den Staub, verachte dich und sprich dir selbst das Urteil!

Du hast durch deine Falschheit die Lehre Jesu entehrt und seine Rechte verachtet; du hast Ihn mit Schmach und Bitterkeit gesättigt und Ihn mit Wunden bedeckt. Bitte den Heiland um Verzeihung und flehe zur allerseligsten Jungfrau, sie möge den Zorn Ihres Sohnes von dir abwenden! Opfere das Blut Jesu und der heiligen Märtyrer auf als Sühne für deine Sünden, und brich endgültig mit allen Fehlern der Vergangenheit, um so vom lieben Gott Verzeihung und Gnade zu erlangen!