179. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

(Lk 10)

 

I Jesus ermahnt seine Jünger zur Nächstenliebe

Jener aber wollte sich rechtfertigen und fragte Jesus: «Wer ist denn mein Nächster?»

Als Jesus dem Gesetzeslehrer sagt: «Du sollst Gott über alles lieben», da ist dieser ganz einverstanden, und er verlangt keine Erklärung. Aber als Jesus hinzufügt: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst», da zögert er und scheint im Zweifel, wen er als seinen Nächsten zu betrachten habe. In unserer Umgebung finden wir immer Menschen, die in ihren Ideen und Grundsätzen von uns sehr verschieden sind und deren Charakter, Erziehung und Lebensweise uns abstoßen. «Sind Menschen, von denen mich so vieles trennt, auch meine Nächsten?» möchten wir da manchmal mit dem Gesetzeslehrer fragen.

Der Heiland antwortet mit einem Gleichnis, durch das Er die Wahrheit veranschaulicht, daß alle Menschen ohne Ausnahme unsere Brüder sind, denn alle sind Kinder des himmlischen Vaters. Somit bildet die übernatürliche Liebe zu allen Menschen einen wesentlichen Bestandteil der Gottesverehrung.

Verfolge mit Aufmerksamkeit die Erzählung des Heilands! «Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter Räuber. Die plünderten ihn aus, schlugen ihn wund, ließen ihn halbtot liegen und gingen weg. Zufällig ging ein Priester denselben Weg hinab. Er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam ein Levit1 dorthin, sah ihn und ging vorüber.»

Nähere dich dem armen Verwundeten, auf den der Heiland deine Aufmerksamkeit lenkt! Für die Vorübergehenden ist er ein Unbekannter, ein Fremdling. Sie gehen gleichgültig an ihm vorüber und halten sich nicht für verpflichtet, ihm in seinem Unglück beizustehen. Du aber sollst in ihm den Bruder erblicken. Frage nicht nach seinem Namen, seinem Volkstum, seiner Religion und stelle keine Nachforschungen an, die für ihn demütigend wären! Laß dich nur von deinem Herzen und von wahrer Gottesliebe leiten und nähere dich ihm voll Güte! Sprich ihm Trost zu, bringe Öl herbei, um seine Schmerzen zu lindern, und Wein, um seine Kraft neu zu beleben. Bitte den Heiland, dir den Geist seiner göttlichen Liebe einzuflößen!

1 Die Leviten halfen den Priestern in ihrem Tempeldienst.

 

II Jesus zeigt seinen Jüngern ein Vorbild wahrer Nächstenliebe

«Auch ein Samariter kam auf seiner Reise in seine Nähe. Als er ihn sah, wurde er von Mitleid gerührt. Er trat zu ihm hin, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie.»

Der barmherzige Samariter kann dir zum Vorbild dienen. Er wendet sich nicht gleichgültig von diesem Bild des Elends ab unter dem Vorwand, daß er nichts besitze, nicht helfen könne, oder daß es ihm an Zeit mangle. Er weiß, daß kein Geschäft und keine Pflicht so dringend ist als diejenige, den Leidenden beizustehen. Deshalb unterbricht er seine Reise, eilt zu dem Unglücklichen hin und beugt sich voller Mitleid nieder, um zu sehen, wie er seinen Schmerzen abhelfen kann. Komm und schau auch du mit den Augen des Glaubens auf den armen Verwundeten und erinnere dich dabei jener Mahnung des Heilands, daß wir im Dienst der Nächstenliebe den lieben Gott in den geringsten unserer Brüder erkennen sollen! Erprobe die Wahrheit dieser Worte an dir selbst! Neige dich zu dem Verwundeten hin und verbinde seine Wunden. Du wirst zum Lohn den Kuß der göttlichen Gnade empfangen, denn in der Person dieses Unglücklichen leidet der Sohn Gottes selbst und fordert dich auf, dich mit seiner Schmach und seinen Schmerzen zu vereinen.

 

III Jesus fordert seine Jünger auf, dem Vorbild des Samariters zu folgen

«Er goß Öl und Wein in seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Lasttier, brachte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn. Am andern Tag zog er zwei Denare heraus und gab sie dem Wirt mit den Worten: «Sorge für ihn! Was du noch darüber aufwendest, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.»

Der barmherzige Samariter gießt Öl und Wein in die Wunden. Er versteht es, die Schmerzen zu stillen und die Bitterkeit zu versüßen. Sieh, mit welcher Liebe er sich des Unglücklichen annimmt, den die göttliche Vorsehung ihn hat finden lassen; er betrachtet ihn als einen der Seinigen. So sollen auch wir im Geist der Liebe alle Hilfs- und Trostbedürftigen, denen wir auf unserem Lebensweg begegnen, als unsere Brüder betrachten.

Damit glaubt der Samariter noch nicht, seiner Pflicht genügt zu haben; er bringt den Verwundeten in eine Herberge. Es genügt auch wirklich nicht, sich nur wenige Augenblicke dem Dienst der leidenden Menschheit zu weihen. Wenn deine Bemühungen, den Unglücklichen zu helfen, nicht gleich Erfolg haben, dann heißt es ausharren. Opfere gern deine Zeit, und Gott wird dich reichlich belohnen.

Als der Samariter zur Weiterreise genötigt ist, da beauftragt er den Wirt bis zu seiner Rückkehr für den Kranken zu sorgen. Beachte wohl, er wird wiederkommen und inzwischen läßt er sich vertreten. So macht es die wahre Nächstenliebe. Was sie selbst nicht mehr tun kann, läßt sie durch andere fortsetzen. Aus der Ferne nimmt sie noch liebevollen Anteil. So sollst auch du in Zukunft handeln.

Im Anschluß an die Erzählung fragt Jesus: «Welcher von diesen dreien scheint dir der Nächste für den gewesen zu sein, der unter die Räuber gefallen war?» Jener aber sprach: «Der, welcher die Barmherzigkeit an ihm geübt hat.» Jesus sprach zu ihm: «Gehe hin, und tue du desgleichen!» Diese Worte des Heilands sind auch an dich gerichtet. Auch du sollst deinen Brüdern Gutes erweisen und dich der Leidenden annehmen. Präge dir dieses Gleichnis tief ins Herz. Das ganze Evangelium ist in dieser Unterweisung zusammengefaßt, und der Sohn Gottes lehrt dich immer wieder: «Sei liebreich!»