164. Die Ehebrecherin

(Joh 8)

 

I Die Ehebrecherin wird dem Heiland vorgeführt

Am frühen Morgen ging Er wieder in den Tempel. Alles Volk strömte Ihm zu. Er setzte sich nieder und lehrte. Da brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau herbei, die beim Ehebruch ertappt worden war, stellten sie in die Mitte und sagten zu Ihm: «Meister, diese Frau ist beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt worden. Moses hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst Du dazu?»

Richte deinen Blick auf diese Sünderin, die man zu Jesus führt, und lerne aus diesem Vorgang, fest auf die unendliche Barmherzigkeit dessen zu vertrauen, der einst dein Richter sein wird. Die Feinde Jesu sagen: «Diese Frau verdient gesteinigt zu werden», und sie fügen hinzu: «Was sagst Du dazu? Was hältst Du von dieser Strafe? Wie würde Dein Urteil lauten?»

Benutze diese Gelegenheit, den Heiland kennenzulernen, dessen Strenge dir bisweilen so furchtbar erscheint. Die Angeklagte ist beim Ehebruch ertappt worden; ihre schwere Schuld ist erwiesen. Jesus aber will vor diesen strengen Anklägern seine unendliche Güte offenbaren. Er nimmt selbst die verworfensten Geschöpfe gnädig auf und hört ohne Entrüstung die schwersten Anklagen.

Wie verhält sich die Schuldige? Sie widerspricht den gegen sie hervorgebrachten Anklagen nicht und versucht nicht, sich zu verteidigen. Sie tut recht daran. Warum sollte der Heiland sich über das Geständnis ihrer Schuld erzürnen? Er ist ja gekommen, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen, und je größer unsere Schuld, um so größer und glorreicher ist auch sein Sieg. Meine Seele, erneuere dich im Vertrauen!

 

II Jesus rettet die Sünderin vor der schweren Strafe, die ihr droht

Jesus bückte sieh nieder und schrieb mit dem Finger auf den Boden. Da sie weiter mit Fragen in Ihn drangen, richtete Er sich auf und sprach zu ihnen: «Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf siel» Und Er bückte sich abermals und schrieb auf den Boden. Als sie die Antwort hörten, schlichen sie davon, einer nach dem andern, die Ältesten voran.

Wie behandelt Jesus die Angelegenheit, die man vor seinen Richterstuhl gebracht hat? Er hört die Aussagen nur an, um ein Mittel zu finden, die Schuldige zu entlasten. Diese zittert nicht zu Füßen des Richters. Freilich hat sie das Gesetz übertreten und ist strafbar, ihre Schuld ist erdrückend. Aber sie fühlt, daß Jesus ihr wohl will, und sie glaubt, daß sie von seiner Weisheit und Güte einen günstigen Ausgang erwarten darf. Dieser Gedanke beruhigt sie mit Recht.

Einen Augenblick schweigt Jesus. Er überlegt, indes die Ankläger Ihn drängen, die Ehebrecherin zu verurteilen. Er schreibt seine Gedanken in den Sand. «Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vervollkommnen. Um der unendlichen Genugtuung willen, die ich bereit bin, Gott zu leisten, wird es mir fortan freistehen, statt der Gerechtigkeit Barmherzigkeit walten zu lassen. Um den Preis meines Blutes werde ich mir das Recht und das Glück erwerben, euch zu begnadigen!» So spricht unser Richter.

Allein die Ankläger bestehen darauf, daß die Sünderin zum Tod verurteilt wird. Und abermals schweigt Jesus. Er kann sich nicht entschließen, jene zu verurteilen, die sich demütigen und ihre Sünden von Herzen bereuen. Endlich sagt Er: «Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sieh!» All denen, die so leicht andere verurteilen, sagt der Heiland: «Denkt an eure eigenen Schwächen! Erforscht euch über eure eigenen Fehler und lasset mir das Vorrecht, der barmherzige Erlöser zu sein!» O göttliche Weisheit, ich erkenne Dich an diesen Worten und bete Dich an. Dir fiel es zu, in heiligem Kuß die Gerechtigkeit des Richters mit der Barmherzigkeit des Erlösers zu vereinigen.

 

III Jesus spricht die Sünderin los und warnt sie vor dem Rückfall in die Sünde

Er blieb allein mit der Frau zurück, die in der Mitte stand. Jesus richtete sich auf und fragte: «Frau, wo sind ,die dich anklagten? Hat keiner dich verurteilt?» Sie antwortete: «Keiner, Herr.» Da sprach Jesus: «So will auch ich dich nicht verurteilen. Geh hin, und sündige fortan nicht mehr.»

Beobachte aus der Nähe diese ergreifende Szene, dieses gnadenreiche Zwiegespräch! Die schuldbeladene Frau hat das Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit besser verstanden als ihre Ankläger; sie denkt nicht daran zu fliehen. Wo könnte sie auch eine bessere Zuflucht finden als in der Güte ihres Heilandes?

Der Richter wird nun das Urteil fällen. In den Adern dieser Sünderin fließt das Blut Adams, das der Heiland selbst von seiner heiligen Mutter angenommen hat. Er soll als unser Bruder das gefallene Menschengeschlecht wieder herstellen. Wie könnte Er da zugeben, daß einer der Seinigen Ihn demütig um Hilfe anflehte und dennoch verloren ginge? Was würde seine heiligste Mutter sagen? Wie würden sein himmlischer Vater und die Heiligen des Himmels darüber urteilen? «Frau, auch ich werde dich nicht verdammen; ich spreche dich los!» Glückliche Sünderin! Deine Ankläger haben sich entfernt, das Schuldbuch ist geschlossen und die Angelegenheit ist zu deinen Gunsten entschieden. Meine Seele! Wirst du jemals wieder diesen unendlich gütigen Richter fürchten können?

Aber der Heiland verzeiht nicht bedingungslos. «Gehe hin, und sündige fortan nicht mehr!» sagt Er. Wie leicht erscheint der Begnadigten diese Bedingung! Sie weiß den hohen Wert der empfangenen Lossprechung zu schätzen. Ihr Glück hat seinen Höhepunkt erreicht, und nichts wird sie in ihrem Entschlüsse, fortan ein besseres Leben zu führen, wankend machen. Ahme diese Sünderin nach, und wie beschwerlich dir der Weg der Besserung auch scheinen mag, weiche niemals wieder von ihm ab! Vertraue deinen Entschluß dem Herzen des Heilands an, und erwarte voll Vertrauen von Ihm die Kraft, Ihm treu zu bleiben!

Küsse unter Tränen die Hände deines Erlösers und überlasse dich ganz den Gefühlen der Freude und Dankbarkeit!