156. Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht

(Mt 18)

 

I Jesus empfiehlt seinen Jüngern, stets gern zu verzeihen

Da trat Petrus zu ihm und fragte: «Herr, wenn mein Bruder gegen mich fehlt, wie oft muß ich ihm denn vergeben? Etwa siebenmal?» Jesus antwortete: «Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.»

Nahe dich Jesus und höre wie Petrus Ihn um neue Belehrungen bittet, deren auch du wegen der Unvollkommenheit deiner Nächstenliebe dringend bedarfst. «Wie oft soll ich meinem Nächsten verzeihen?» fragt Petrus. Jesus antwortet ihm: «So oft er dich beleidigt.» — Nimm diese Lehre an und folge dem Gedankengang des Heilands in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht. Warum sollst du verzeihen, und zwar rückhaltlos verzeihen? Weil darin das wirksamste Mittel liegt, deine erdrückende Schuld Gott gegenüber abzutragen. Jesus fährt fort: «Darum ist das Himmelreich einem König gleich, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte. Als er damit begann, wurde ihm einer vorgeführt, der ihm zehntausend Talente schuldig war.» Wer ist dieser Knecht, der vor den Richterstuhl seines Herrn berufen wird? Du selbst bist es, denn du befindest dich Gott gegenüber in der gleichen Lage. Du bist sein Schuldner und unfähig, deine Schuld zu bezahlen.

Du bist zahlungsunfähig als Mensch, insofern du nichts als Eigentum besitzt, sondern alles nur als Verwalter Gottes. Zahlungsunfähig bist du ferner als Sünder. Durch deine Sünden hast du der göttlichen Gerechtigkeit gegenüber eine Schuld auf dich geladen, die du nicht begleichen kannst. Gott verlangt eine Genugtuung, die seiner unendlichen Vollkommenheit entspricht und die du deiner Nichtigkeit wegen nicht zu leisten vermagst.

Was bleibt aber einem zahlungsunfähigen Schuldner anderes übrig, als sich der Barmherzigkeit seines Gläubigers zu überlassen? Wodurch können wir uns diese Barmherzigkeit sichern? Vor allem durch das Gebet. Der Knecht unserer Parabel hatte das erfaßt: Da fiel der Knecht vor ihm nieder, bat ihn und sprach: «Hab Geduld mit mir, ich werde dir alles bezahlen.»

Er ist bereit, alle Bedingungen zu erfüllen, die sein Herr ihm stellen wird, wenn er nur Erbarmen mit ihm hat. Das Gebet vermag alles über das Herz Gottes und setzt den Schuldner in den Stand, Sühne zu leisten. Gott erbarmt sich und verzeiht. «Der Herr erbarmte sich des Knechtes, gab ihn frei und erließ ihm die Schuld.» So können auch wir durch Gebet vom göttlichen Herzen alles erlangen und selbst die größte Schuld abtragen.

 

II Jesus versichert, daß jene, die ihren Mitmenschen nicht verzeihen, auch keine Verzeihung bei Gott erlangen

Als aber der Knecht hinausging, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Den packte und würgte er, indem er sprach: «Bezahle, was du schuldig bist!»

Gott vergibt gern, wenn man Ihn darum bittet, aber Er tut es nicht bedingungslos. Jesus will dich davon überzeugen. Durch seine Freisprechung hat jener Knecht eine neue Verpflichtung auf sich geladen, der er indes leicht nachkommen kann. Jesus sagt: «Verzeihe deinem Nächsten, wie Gott dir getan hat. Verzeihe anderen, wie dir verziehen worden ist.»

Dem freigesprochenen Knecht bietet sich sogleich Gelegenheit, diese erhabene Lehre praktisch zu verwerten, aber seine Selbstsucht hält ihn davon ab. — Da fiel ihm sein Mitknecht zu Füßen, bat ihn und sprach: «Habe Geduld mit mir, und ich werde dir alles bezahlen.» Der aber wollte nicht, sondern ging hin und ließ ihn in den Kerker werfen, bis er seine Schuld bezahlt hätte.

Die unendliche Liebe Gottes ist den Worten des Heilands gemäß der Maßstab für die Liebe, die uns miteinander vereinigen soll. Unser himmlischer Vater lehrt uns durch sein Beispiel, von unseren Mitmenschen alles zu erdulden und ihnen alles zu verzeihen. Dieses Beispiel erhält in der Kirche seines Sohnes Gesetzeskraft. Die Verpflichtung ist streng, du kannst ihr nicht entgehen.

In welcher Gesinnung sollen wir verzeihen, um Gott gleichsam eine Gegenleistung zu bieten für die Verzeihung, die Er uns gewährt? Betrachte den Akt des Verzeihens als ein Lob- und Dankopfer, das du auf Gottes Altar niederlegst. Vergeben heißt wohl, einem Menschen die Schuld nachlassen, vor allem aber heißt es, der göttlichen Majestät allen Groll und alle Erbitterung, allen Zorn und alle Rachegedanken opfern. Gott kann und wird dieses Opfer immer von uns fordern.

Nicht den Menschen, sondern Gott allein wird dieses Opfer gebracht, das der Eigenliebe so schmerzlich ist. Darum darfst du selbst bei der schwersten Beleidigung die Verzeihung nicht verweigern.

Der unbarmherzige Knecht erkennt diese Pflicht zu spät und weiß auf die Vorwürfe seines Herrn keine Entschuldigung vorzubringen. «Du böser Knecht! Ich habe dir die ganze Schuld erlassen, weil du mich gebeten hast. Hättest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen müssen, wie ich mich deiner erbarmt habe?» Voll Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt hätte.

Denke an die Beschämung dieses Unglücklichen, wenn du versucht bist, empfindlich und rachsüchtig zu sein, während der himmlische Vater gegen dich so freigiebig und barmherzig ist. Du weißt jetzt, wie du dem göttlichen Strafgericht entgehen kannst. — «So wird auch mein himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht.» — Darum verzeihe allen, die dich gekränkt haben, und lerne vom Herzen Jesu die wahre Liebe.