155. Von der brüderlichen Zurechtweisung

(Lk 17, Mt 18)

 

I Jesus macht es seinen Jüngern zur Pflicht, jede Beleidigung bereitwillig zu verzeihen

«Habt acht aufeinander! Wenn dein Bruder sich gegen dich verfehlt, so weise ihn zurecht. Tut es ihm leid, so vergib ihm. Und sollte er sich siebenmal am Tag gegen dich verfehlen und siebenmal wieder zu dir kommen und sagen: Es tut mir leid, so vergib ihm.»

Der Heiland fährt fort, dich zu belehren. Horche aufmerksam auf alles, was Er dir über das Gebot der Nächstenliebe sagen wird, und du wirst erkennen, wie du dich zu verhalten hast, wenn dein Bruder dich beleidigt, dich rücksichtslos behandelt oder gar deinen Interessen schadet.

Jesus erklärt, daß dem Gesetz des Neuen Bundes gemäß jeder, der dich beleidigt, doch dein Bruder bleibt. Er gehört der Gottesfamilie an, und es wäre unrecht, ihn als Fremdling zu behandeln. «Verzeihe ihm», sagt Jesus, «er ist dein Schuldner geworden, erlasse ihm seine Schuld!»

Das Gebot ist klar. Wie stellst du dich dazu? Was verraten deine Worte und Handlungen? Überläßt du dich nicht den Gefühlen der Erbitterung, anstatt der Aufforderung des Heilands Folge zu leisten? Wenn du die Fehler des Nächsten nicht verzeihst, lädst du vielleicht vor Gott eine schwere Schuld auf dich. Lerne großmütig sein, laß deine verletzte Eigenliebe mit Jesus am Kreuz sterben! Sage nicht: Das ist unmöglich! Jesus hat denen, die verzeihen, wahre Freuden bereitet. Lege also zu Füßen deines Heilands allen Groll nieder und verzeihe von Herzen allen, die dich gekränkt haben!

 

II Jesus erklärt seinen Jüngern, wie sie sich bei Beleidigungen zu verhalten haben

«Wenn dein Bruder gegen dich gefehlt hat, so geh hin und stelle ihn unter vier Augen zur Rede. Gibt er dir Gehör, so hast du deinen Bruder gewonnen.»

So lehrt dich Jesus. Denke über seine Worte nach! Es genügt nicht, dem Nächsten zu verzeihen, man muß versuchen ihn zu bessern. Diese Pflicht kann drückend werden, deshalb zeigt Jesus dir, in welchem Geist du sie zu erfüllen hast.

Die brüderliche Zurechtweisung darf keine Befriedigung verletzter Eigenliebe sein, einzig der Wunsch, eine Seele auf den rechten Weg zurückzuführen und für die gute Sache zu gewinnen, soll dich dazu antreiben. «Du sollst deinen Bruder zurechtweisen aus Liebe zu ihm, nicht aus Liebe zu dir», lehrt der heilige Augustinus. Denke an die Gott zugefügte Beleidigung und eifere für die Ehre Gottes, indem du an der Bekehrung dessen arbeitest, der dir Grund zur Klage gegeben hat. Nur solche Handlungsweise ist eines Christen würdig.

Jesus verlangt, daß du dabei mit Takt und Zartgefühl vorgehst. Dein Benehmen muß zeigen, daß es nicht deine Absicht ist, den Schuldigen zu beschämen oder dich zu rächen, sondern einzig, ihn zu heilen. Alle sollen merken, daß du in uneigennütziger Weise mehr für das Seelenheil des anderen als für dein Interesse besorgt bist. So werden deine Bemühungen mit Erfolg gekrönt werden. Beachte ferner, daß der Heiland davor warnt, den Schuldigen aufzugeben, wenn er den ersten Ermahnungen kein Gehör schenkt. Er bittet dich, mit demselben Zartgefühl deine Bemühungen zu wiederholen, und um ihnen den gewünschten Erfolg zu verschaffen, kannst du von dem Einfluß eines Höherstehenden Gebrauch machen. «Wenn er aber nicht auf dich hört, nimm noch einen oder zwei mit dir. Wenn er auch auf diese nicht hört, so sage es der Kirche.»

Erst wenn du zuvor den Rat der Stellvertreter Christi eingeholt hast, magst du einen Schuldigen als unverbesserlich aufgeben.

Denke nach, welchen praktischen Nutzen du aus diesen Ratschlägen ziehen kannst! Übe eifrig dieses Apostolat, falls Gott dich dazu beruft.