6. Betrachtung: Das Vater unser

Gib uns heute unser tägliches Brot“ (Matth. 6, 11)

 

1. Anbetung

Wir beten Gott an in seiner unendlichen Macht, in der er allen geben kann, die ihn bitten. Überschau’ die ganze Erde und denke an alle die Wesen, die täglich gespeist werden müssen, die hilflos sind und von ihm ihre Nahrung empfangen müssen. Er erhält das Menschengeschlecht, er sorgt für die Tierwelt, er vergisst den jungen Raben nicht und das Würmlein im Staub findet seine Speise. Mag ein König noch so groß, noch so reich sein, er vermag nicht alle Bitten zu gewähren, er ist nicht imstande, allen Armen seines Reiches täglich den Tisch zu decken.

Vom König Assuerus lesen wir im ersten Kapitel des Buches Esther: „Zur Zeit des Assuerus, der von Indien bis Äthiopien über 127 Landschaften herrschte, als er auf seinem Königsthrone saß, war Susan die Hauptstadt seines Reiches. Im dritten Jahr seiner Herrschaft also veranstaltete er ein großes Festmahl für alle seine Fürsten und Diener, die Gewaltigen unter den Persern und die Angesehenen unter den Medern und die Statthalter der Landschaften vor sich, nämlich 180 Tage lang, um die Reichtümer und Herrlichkeiten seines Reiches und die Größe und Pracht seiner Macht zur Schau zu stellen. Und als die Tage des Gastmahles vorüber waren, lud er das ganze Volk, das sich in Susan befand, vom Größten bis zum Kleinsten ein und ließ sie sieben Tage lang ein Mahl bereiten. Die Geladenen aber tranken aus goldenen Bechern und die Speisen wurden in immer wechselnden Gefäßen aufgetragen; auch ward, wie es königlicher Herrlichkeit ziemte, der beste Wein in Überfluß aufgesetzt.“

Das ist eine glänzende Offenbarung königlicher Macht und Herrlichkeit. Und doch, wie gering ist es gegen Gottes unendlichen Reichtum, der nicht eine Stadt, nicht ein Volk zum Gastmahl lädt, der sie nicht sieben Tage lang speist, sondern der die ganze Welt jahraus, jahrein um seinen Tisch versammelt. Wir begreifen, daß der Psalmsänger begeistert ausruft: „Aller Augen harren auf dich, o Herr, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit; du öffnest deine Hand und erfüllest ein jegliches Wesen mit deinem Segen“ (Ps. 144, 15)

Und ein noch viel köstlicheres Brot reicht uns Gott: es ist das eucharistische Brot im heiligsten Altarssakrament. Hier beten wir ein direktes Wunder an und es ist eine unendliche Liebe, vor der wir da in staunenden Erschauern stehen. Das Manna war einst Himmelsbrot „den Wolken gebot einst Gott und öffnete die Pforten des Himmels und ließ ihnen Speise regnen und Brot vom Himmel (Ps. 77, 23); nicht aus den Wolken kommt unser Manna: vom Thron des Allerhöchsten ist es herabgestiegen; es ist „Himmelsbrot“ und „Engelsspeise“ (Ps. 77) im vollsten Sinne des Wortes. Es ist selbst unser Gott und anbetend neigen wir uns vor ihm.

 

2. Dank

Jeden Tag deines Lebens hat dich Gott mit Speise und Trank versorgt. Es waren Tage, wo du noch nicht arbeiten konntest: Du bliebst nicht ohne Speise. Es waren viele Tage, wo du um das tägliche Brot noch nicht bitten konntest: Er versagte es dir nicht. Es waren manche Tage, wo wir seiner Gaben vielleicht wenig würdig waren: Er hat doch seine Hand erbarmend uns geöffnet. Danke ihm heute ganz besonders für das Brot, das du täglich genossen, und für die Liebe, mit welcher er es dir so viele Jahre gereicht, und versprich ihm aufrichtig, dich seiner Güte würdig zu erweisen.

Und nicht bloß Brot hast du aus seiner Hand empfangen: Wohnung, Kleidung, Gesundheit, Leben, ein glückliches Dasein. Hast du ihm für alles dieses schon gedankt? Hast du wenigstens in einem andächtigen Morgengebet seiner Gaben gedacht, hast du ihm bei deiner Abendandacht nochmals deine Erkenntlichkeit erwiesen? Hole heute nach, was du versäumt hast!

Und welche Sorgfalt hast du auf die Danksagung nach der heiligen Kommunion verwendet? Bist du dir der unendlichen Schätze bewusst, die du am Tische des Herrn in dein Herz aufnehmen darfst? Kannst du die Gnaden annähernd zählen, die du da empfängst? Nimm dir vor, an dem Tag, an dem du kommunizierst, recht oft deines Heilandes zu gedenken und dich an die süßen Geheimnisse der Morgenstunden zu erinnern!

 

3. Sühne

Gott gibt dir Leben und Nahrung, damit du ihm dienen kannst. Der ist ein böser Knecht, der seines Herrn Brot iß*t und nicht für ihn arbeiten will. Warst du ein treuer Knecht deines Gottes und hast du dein Brot dadurch verdient? Durch die Sünde hast du dich des Stücklein Brotes unwürdig gemacht, das du zum Munde führst. Oder hast du selbst die Gaben deines Gottes missbraucht? Hast du das Brot entweiht durch Unmäßigkeit oder Genußsucht? Hast du Wohnung und Kleidung entweiht durch Luxus und übertriebene Pracht? Hast du Kraft und Gesundheit durch Stolz und Ausschweifung missbraucht und entweiht?

Da müsste uns jener Vorwurf treffen, den der Psalmist gegen Israel erhob, das Gott in der Wüste mit Manna gespeist und doch immer wieder gesündigt hatte: „Sie liebten ihn nur mit ihrem Munde und logen ihm mit ihrer Zunge; ihr Herz dagegen war nicht gerade mit ihm und nicht bewahrten sie Treue in ihrem Bunde“ (Ps. 77, 36).

Und prüfe dich auch ernst, wie du die Himmelsspeise der heiligen Kommunion genossen, und sei ernstlich bestrebt, dich zu bessern.

 

4. Bitte

Bitte Gott um das tägliche Brot und um die Gnade, es zu seiner Ehre und zu deinem Heil zu gebrauchen. Vor allem aber bitte ihn auch, er wolle dir großen Eifer zum Empfang des Himmelsbrotes schenken. Papst Pius X. hat uns ermahnt, täglich unsere Seele mit diesem Brot zu nähren, wie wir unseren Leib täglich mit dem irdischen Brot speisen. Beherzigen wir darum, was der heilige Ambrosius sagt: „Wenn es unser tägliches Brot ist, warum empfängst du es bloß einmal im Jahr? Lebe so, daß du verdienst, es täglich zu empfangen!“ (Si panis est quotidianus, cur post annum tantum eum sumis? Sic vive, ut quotidie merearis accipere.)