10. Betrachtung: Das Gegrüßet seist du Maria

„Gegrüßet seist du, Maria“ (Luk. 1, 28)

 

1. Anbetung

Wir beten den ewigen Vater an, der seiner auserwählten Tochter einen so huldvollen Gruß sendet. Er ist der Allheilige und Allgütige. Er hat in seiner Allmacht und Allwissenheit an Maria ein Werk geschaffen, das seine Augen entzückt. Der Glanz ihrer Reinheit und die Anmut ihrer sonstigen Tugenden hat ihr sein Herz gewonnen und ihn veranlaßt, ihr eine Gunst zu verleihen, die keinem Sterblichen je zuteil wurde: ihr den Gruß der Liebe und Vaterhuld zu übermitteln durch Engelsmund.

Dieser Gruß ist uns die erste Offenbarung davon, daß die Fülle der Zeit gekommen ist, daß sich das große Werk göttlichen Erbarmens jetzt verwirklichen soll; die Menschwerdung seines eingeborenen Sohnes und die Erlösung der Welt. Wer darüber nachdenkt, muß in tiefster Demut den Vater anbeten für den großen Ratschluß, den er von Ewigkeit her gefaßt hat, und für die wunderbaren Geheimnisse, die wir staunend betrachten.

Wir beten den ewigen Sohn an, der heute seiner erwählten Mutter den ersten Gruß vom Himmel sendet. Es ist eines der süßesten Geheimnisse, dieser Gruß an die Mutter. Er offenbart uns seine Liebe, die ihresgleichen nicht hat, welche die ganze Welt mit wohltuender Wärme erfüllt.

Wir beten den Heiligen Geist an, der heute seine erkorene Braut zum erstenmal grüßt. Kein Gruß zwischen Braut und Bräutigam war je so innig. Seit dem ersten Augenblick ihrer Empfängnis hat er ihr die Seele mit Wundern und Gnadengaben überhäuft; in unvergleichlicher Weise hat sie jeden Tag und jeden Augenblick mit diesen Gaben mitgewirkt, und so ist ihre Seele zu einem auserlesenen Tempel geworden, dessen Pracht Himmel und Erde überstrahlt, zu einem Tempel des Heiligen Geistes, in dem sich jetzt das größte Geheimnis vollziehen soll.

Sieh', meine Seele, an so viele Wunder wirst du erinnert, wenn du das "Ave Maria" sprichst; neige dich demütig und bet' ihn dafür an und laß dein Herz weit werden und freu dich über all' das Große, das du geschaut. Freu' dich, daß sich Gott so groß erweist in diesen Geheimnissen, und daß er Maria so hoch erhoben und so wunderbar begnadigt hat.

Und wir verehren in herzlicher Anerkennung die herrlichen Tugenden Marias, die ihr die unaussprechliche Gnade eines solchen Grußes verschafft und verdient haben. Laß oft dein Auge ruhen auf ihrem wunderschönen Bilde, wie sie in stiller Andacht versunken in ihrem Kämmerlein weilt, strahlend im Glanze himmlischer Herzensreinheit, voll tiefer Demut, voll anspruchsvoller Bescheidenheit, in heiliger Schweigsamkeit, in tiefster Sammlung, erfüllt von glühender Liebe zu Gott, an Heiligkeit hoch erhaben über alle Menschen.

Freue dich über all ihre köstlichen Vorzüge und schätze dich glücklich, sie begrüßen zu dürfen und ihr Kind zu sein. Einen Blick der Huld von ihr zu erlangen, halte für die größte Gunst, und ihr zu gefallen für das süßeste Glück, und ihr zu folgen in ihren schönen Tugenden für deine edelste Aufgabe.

 

2. Dank

Durch das Ave wurde der Fluch hinweggenommen, den Eva über die ganze Erde und das ganze Menschengeschlecht gebracht. Das ist eine unendliche Wohltat, für die wir nicht genug danken können. Schauen wir nur den Fluch einmal an, den Gott ausgesprochen hat. Zu Adam sprach er:

"Weil du der Stimme des Weibes Gehör gegeben und von dem Baume gegessen hast, von dem ich dir geboten, nicht zu essen, so sei die Erde verflucht ob deiner Tat; mit vieler Arbeit sollst du dich von ihr ernähren dein Leben lang; Dornen und Disteln soll sie dir tragen und du sollst das Kraut des Feldes essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du zur Erde zurückkehrst, von der du genommen bist, denn du bist Staub und sollst wieder zu Staub werden" (Gen. 3, 17), "und Gott trieb Adam hinaus und setzte vor das Paradies der Wonne die Cherubin mit flammendem, zuckendem Schwert, den Weg zum Baume des Lebens zu bewachen" (ebendort B. 24).

Jenes Glück, das wir da verloren, hat uns Maria wieder gegeben, da sie würdig war, den Gruß des Engels Gottes zu empfangen.

 

3. Sühne

Prüfe dein Leben, ob du mehr den Spuren Evas oder dem Beispiel Marias gefolgt bist. Hast du deine Hand nach verbotenen Genüssen ausgestreckt wie Eva oder hast du in heiliger Entsagung gelebt wie Maria? Hast du den Einflüsterungen der Schlange Gehör gegeben oder den Eingebungen des Engels, den Gott an deine Seite gestellt hat?

Das sind ernste Fragen; aus ihnen geht hervor, ob dich Gott in der Erdentrübsal noch läutern muß oder mit der Fülle seiner Gnade segnen kann. Bereue deine Widerspenstigkeit und Untreue und nimm alles, was die Erde dir an Ungemach auferlegt, geduldig hin zur Buße deiner Fehler und zur Reinigung von ihnen.

Dann mag es sein, daß auch dir der Herr sein Angesicht in Huld zuwendet und dir den Frieden und die Freude seiner begnadeten Kinder verleiht. Welche Übungen willst du heute noch anstellen, um zu dieser geduldigen Hinnahme deiner Schwierigkeiten zu kommen?

 

4. Bitte

Bete mit der Kirche zu Maria: "Sumens illud Ave Gebrielis ore — Funda nos in pace — Mutans Hevae nomen: Du, der frohe Kunde — ward aus Engels Munde, — uns den´Frieden spende, Evas Namen wende!" Amen!