Das Buch der Wahrheit

in

Maria Valtorta – Der Gottmensch

Band 6, Kapitel 409

Am anderen Ufer • Begegnung mit der Mutter

Aber für alles, was ich von ihnen gefordert, ihnen auferlegt und von ihnen erhalten habe, werde ich ihnen ewige Freude, eine besondere Herrlichkeit geben! Im Himmel ist ein verschlossenes Buch, nur Gott kann darin lesen. In ihm sind alle Wahrheiten enthalten. Bisweilen jedoch löst Gott die Siegel, um die den Menschen schon gelehrten Wahrheiten erneut wachzurufen, indem er einen eigens dafür erwählten Menschen zwingt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie in dem geheimnisvollen Buch enthalten sind, zu erkennen.

Habt ihr niemals einen Sohn gesehen, den besten der Familie, oder einen Schüler, den besten der Schule, der vom Vater oder vom Lehrer aufgerufen wurde, in einem Buch für Erwachsene zu lesen und sich dann die Erklärung anzuhören? Er steht neben dem Vater oder an der Seite des Lehrers, der ihm einen Arm um die Schultern gelegt hat und mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf die Zeilen deutet, die der Auserwählte vorlesen und kennenlernen soll. So macht es Gott mit seinen Geweihten, er legt ihnen einen Arm um die Schultern, zieht sie an sich und fordert sie auf, das zu lesen, was er wünscht, und die Bedeutung der Worte zu erkennen und sie dann weiterzugeben, auch wenn das oft Spott und Pein einbringt. Ich, der Mensch, bin der Bannerträger jener, welche die Wahrheit des Buches verkünden, und ich ernte dafür Verachtung, Schmerz und Tod. Aber schon bereitet der Vater meine Herrlichkeit vor, und ich werde, nachdem ich zu ihr aufgestiegen bin, die Herrlichkeit derer vorbereiten, die ich gezwungen habe, in dem verschlossenen Buche jene Stellen zu lesen, die ich gewünscht habe, und angesichts der ganzen wiedererweckten Menschheit und der Chöre der Engel werde ich sie als das bezeichnen, was sie waren, indem ich sie zu mir rufe, während ich die Siegel des Buches öffne. Denn das Buch braucht dann nicht mehr verschlossen zu sein, und sie werden lächeln, wenn sie die Worte, die ihnen schon erklärt wurden, als sie noch auf Erden litten, niedergeschrieben wiedersehen werden.«

»Und die anderen?« fragt Johannes, der sehr aufmerksam zuhört.

»Welche anderen?«

»Die anderen, die wie ich das Buch auf Erden nie gelesen haben, werden nie wissen, was darin geschrieben steht?«

»Im Himmel wird den Seligen alles offenbar sein. Sie werden, erfüllt von der unendlichen Weisheit, alles erkennen.«

»Sofort? Gleich nach dem Tode?«

»Sobald sie in das ewige Leben eingegangen sind.«

»Aber warum wirst du sie am letzten Tage sehen lassen, daß du sie rufst, den Inhalt des Buches zu erfahren?«

»Weil es nicht nur die Seligen sehen werden, sondern die ganze Menschheit, und unter den Verdammten werden jene sein, die die Stimmen Gottes als Törichte und Besessene verlacht und sie wegen dieser Gnadengaben gequält haben. Eine lang erwartete, aber gebührende Genugtuung, die den Märtyrern der bösartigen Stumpfsinnigkeit der Welt gewährt werden wird.

»Wie schön wird es sein, dies sehen zu dürfen!« ruft Johannes begeistert aus.

»Ja, und sehen zu dürfen, wie all die Pharisäer vor Wut mit den Zähnen knirschen«, sagt Petrus und reibt sich die Hände.

»Oh, ich denke, ich werde dann auf Jesus schauen und auf die Gesegneten, die mit ihm im Buche lesen werden ...«, entgegnet Johannes, der schon von jener Stunde träumt. Sein Blick verliert sich in ich weiß nicht welcher lichtvollen Vision, und seine Augen glänzen von Tränen der Erregung, die nicht über die Wangen herunterrollen, aber die himmelblaue Iris aufleuchten lassen, während auf den roten Lippen ein kindliches Lächeln liegt.

Der Zelote schaut ihn an. Auch Jesus betrachtet ihn schweigend. Der Zelote aber sagt: »Du wirst dich selber schauen. Denn wenn unter uns einer ist, der auf Erden „Stimme Gottes" sein und gerufen werden wird, die Stellen im versiegelten Buche zu lesen, dann bist du es, Johannes, du, der Lieblingsapostel Jesu und Freund Gottes.«

»Oh, sag das nicht! Ich bin der Unwissendste von allen. Und wenn Jesus nicht gesagt hätte, daß das Himmelreich den Kindern gehört, würde ich glauben, es niemals erreichen zu können, da ich doch zu gar nichts tauge. Nicht wahr, Meister, ich bin doch nur deshalb etwas wert, weil ich wie ein Kind bin?«

»Ja, du gehörst der seligen Kindheit an, und sei dafür gesegnet!«